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Blindlings

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Blindlings

Wir leben über unsere Verhältnisse, sagte Tilman und griff zu einem Marmorkeks, er hatte Marmorkekse eingekauft anstelle der Vanillekipferl, die im Geschmack nachgelassen hatten, seitdem die Preise für Vanille so massiv angezogen hatten, wir erwähnten das kürzlich und werden uns damit jetzt nicht weiter aufhalten.

Farb nickte, tat sich eine Pflaumenschnitte auf, nahm einen Löffel Schlagsahne dazu und strich sie langsam und sorgfältig glatt.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin. Ob sie eine vierte Person einladen sollten, überlegte sie, zu viert könnten sie Doppelkopf spielen, aber wen, vielleicht den Wette, oder Ramses ließe sich wieder einmal sehen, ja, Ramses II., er halte sich gelegentlich hier auf, aber spiele er Doppelkopf, nein, sagte sie, die Pearl S. Buck habe sie beiseite gelegt, wie peinlich, sie habe einen zweiten Roman von ihr gelesen und könne sie niemandem empfehlen.

Die Dinge fügten sich nicht mehr zusammen, sagte Tilman.

Ob sie das je hätten, fragte sich Farb.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie lächelte, sie hatten wie immer das Service mit dem Drachen aufgedeckt, rostrot, das Tilman, wie er stets glaubwürdig versicherte, aus Beijing mitgebracht hatte, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, doch Anika hatte das gleiche Service vor einigen Tagen in einer Auslage in einem Fenster in der City gesehen, rostrot, er hätte es ohne weitere Umstände dort kaufen können.

Es sei ein Murks, konstatierte Tilman, wer solle die Dinge jemals wieder zurechtrücken.

Farb nickte und aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

Wenn man bedenke, wie hemmungslos der Mensch seinesgleichen töte, sagte er, er wolle gar nicht an den Weltkrieg erinnern, sagte er, siebenundzwanzig Millionen russische und sechs Millionen jüdische Opfer, unfaßbar, es habe den Anschein, der Homo sapiens nehme das gelassen hin, er richte Gedenktage ein, lege unter salbungsvollen Worten Kränze nieder, kniend, und ändere darüber hinaus nichts.

Sondern, fragte Annika.

Man befinde sich mittendrin im Schlamassel, sagte er, Ukraine, sagte er, Gaza, sagte er, nichts habe er gelernt, der hochmütige Homo sapiens, säbelrasselnd trete er auf, selbstherrlich, die Hersteller könnten die Waffen gar nicht so zügig liefern, wie sie eingesetzt werden sollen, was seien das für Zustände.

Ein Murks, wiederholte Tilman.

Und ob es nicht dem Ende entgegen gehe, fragte Annika.

Wie – dem Ende, fragte Farb.

Dem Ende des Industriezeitalters, sagte Annika.

Gut möglich, sagte Tilman, die Waffentechnologien seien perfektioniert, man morde mit drohnengelenkten Systemen, mit Robotwaffen, die Ziele würden per Satellit  angesteuert, GPS-Empfänger seien heutzutage in nahezu jedem smartphone verbaut, der Homo sapiens sei spitze in Vernichtungstechnologie, konkurrenzlos Spitze, die Infrastruktur für Militärschläge könne kaum besser sein.

Wir töten über unsere Verhältnisse, sagte Farb, die Bilder der Zerstörungen seien erschütternd, und man frage sich, weshalb niemand einlenke und wer denn wohl in der Lage sein werde, die Städte wieder aufzubauen.

Der destruktive Rausch kenne keine Grenze, sagte Tilman, und es dürfe gezweifelt werden, daß es jemals wieder eine Gelegenheit geben werde, auszuschlafen und den Kater durchzustehen, den Kopfschmerz abklingen zu lassen, vermutlich nicht, der Rausch entfalte ein Eigenleben, breite sich gefräßig in andere Bereiche aus und gewinne an Momentum.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

Er lese, daß Hirnimplantate, sagte Tilman, ermöglichen sollen, durch Gedankenimpulse das Mobiltelefon oder den Computer zu bedienen, Forschungen seien im Gange, Tierversuche seien bereits durchgeführt, und selbstverständlich sei all das verbunden mit der Verheißung, man werde Gelähmten wieder zu Bewegung verhelfen, zu Goldmedaillen bei den Paralympics, das sei das immergleiche süßliche Marketing, wer möchte sich dagegen aussprechen, das erste Produkt werde ›Telepathy‹ heißen und werde betrieben von demselben Mann, gegen den wegen Mängeln an seinen angeblich selbstfahrenden Tesla-PKW in den USA diverse Klagen verhandelt würden, was falle uns dazu ein, zu den Herrschaften dieser Couleur gäbe es zu anderer Gelegenheit mehr zu sagen.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Es wäre Sache der Politik, einzugreifen, sagte sie.

Farb gähnte. Rote Linien, spottete er.

Ein brasilianischer Richter am obersten Gerichtshof habe erst vor wenigen Tagen kompromißlos Grenzen gesetzt, sagte Tilman, rückte seinen Sessel an den Couchtisch heran und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte und überlegte, ob er dazu nicht doch lieber eine Tasse Kaffee tränke, genieße man Yin Zhen nicht sowieso besser ohne Pflaumenschnitte.

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