Mit ihrem für den Friedrich-Glauser-Preis nominierten Thrillerdebüt Wolfskinder hat die in Nordrhein-Westfalen geborene und heute in der Schweiz lebende Vera Buck 2023 nachdrücklich auf sich aufmerksam gemacht. Nun folgt mit Das Baumhaus jener Roman, der nach Ansicht vieler immer der ungleich schwerere ist, Nummer 2 nämlich. Und um es gleich vorwegzunehmen: Auch Bucks neues Buch lebt bis auf ein paar verwirrende Momente gegen Schluss von einer spannenden, routiniert erzählten Geschichte, die ihre Leserinnen und Leser diesmal mitnimmt ins schwedische Västernorrland, eine riesige, von undurchdringlichen Wäldern und schroffen Steilküsten geprägte Gegend. Und hier, in der »letzten europäischen Wildnis«, wie der Roman es ausdrückt, gut 500 Kilometer nördlich von Stockholm, lässt Vera Buck es zur tödlichen Konfrontation ihrer Figuren mit den Schatten der eigenen Vergangenheit kommen. Von DIETMAR JACOBSEN
Nora und Henrik Saunders, sie als Meerestechnikerin auf Offshore-Windkraftanlagen spezialisiert, er Kinderbuch-Autor – suchen gemeinsam mit ihrem fünfjährigen Sohn Fynn für einen Sommer die Einsamkeit der schwedischen Wälder. Henriks Großvater hat hier eine Ferienhütte besessen. An die Aufenthalte dort erinnert sich sein Enkel auch nach dem Tod des Alten noch mit großer Dankbarkeit. Sie zählten zum Schönsten im Leben des Heranwachsenden und die mit der Gegend verbundenen Mythen und Sagen, die die Erzählungen des Großvaters für seinen Nachkommen lebendig werden ließen, inspirierten ihn nicht zuletzt dazu, später selbst den Weg eines Geschichtenerfinders für Heranwachsende einzuschlagen.
Dass die im Gegensatz zu ihrem Mann ganz der Rationalität verpflichtete Nora noch einen anderen, sehr persönlichen Grund hat, für eine Weile das heimische Greifswald zu verlassen, ahnt Henrik nicht. Aber vom ersten Moment an in der einst so vertrauten Gegend spürt er deutlich, dass er mit einer ihm nur mehr bruchstückhaft erinnerlichen Geschichte aus seiner Kindheit noch längst nicht abgeschlossen hat. Und als er eines Nachts mitten im Wald ein halb verfallenes Baumhaus entdeckt, werden die Geister der Vergangenheit nach und nach wieder lebendig. Schon bald darauf befindet sich die kleine Familie in großer Gefahr.
Leben in der Wildnis
Denn Henrik wird allmählich bewusst, dass das, was vor allem sein strenger Vater einst als die Hirngespinste eines mit allzu viel Fantasie ausgestatteten Kindes durch Psychopharmaka unter Kontrolle zu bringen versuchte, nichts anderes war als das, was er tatsächlich erlebt hatte. Nur war sein jüngeres Ich damals noch nicht in der Lage, sich glaubhaft mitzuteilen und hat sich deshalb offensichtlich mitschuldig am Tod eines anderen Menschen gemacht.
Denn er hätte das kleine Mädchen, das er, in einem Baumhaus angekettet, eines Tages beim Spielen entdeckte und dem er den Namen Marla gab, retten können. Hatte er dem Kind doch versprochen, alles zu seiner Rettung Nötige zu unternehmen. Doch nachdem er von Marlas Peiniger zunächst in die Flucht geschlagen wurde, waren es Probleme mit dem an zunehmender Demenz leidenden Großvater gewesen, welche die Familie in Beschlag nahmen, so dass Henrik sein Versprechen letztendlich nicht einlöste.
Geschickt verflicht Vera Buck mit der Geschichte ihrer im Zentrum des Romans stehenden Familie ein weiteres Schicksal. In Rosa Lundqvist, der angehenden Forensikerin, sehen die Menschen, mit denen sie es zu tun hat, eine Außenseiterin. Die junge Frau, in ihrer Kindheit und frühen Jugend Zielscheibe der bösen Attacken einer von ihrem älteren Bruder Ebbe angeführten Halbstarkenclique, hat sich ganz aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Anderen Menschen gegenüber zutiefst misstrauisch, lebt sie völlig ihren eigenen Interessen und verweigert sich allen Bemühungen, sie in das gesellschaftliche Leben einzubinden.
Mit der von ihr während ihres Studiums in Amsterdam entwickelten Methode, den Fundort von Leichen anhand des durch deren Zersetzungsprozesse im Boden sich verändernden Aussehens der die Fundstelle umgebenden Vegetation zu bestimmen, hat sie noch niemanden wirklich überzeugen können. Doch als sie aufgrund ihrer Kenntnisse im Wald auf ein Kinderskelett stößt und die örtliche Polizei ihr probehalber eine Stelle anbietet, um ihr Können in den Dienst der Suche nach in den riesigen Waldgebieten des Skuleskogen-Nationalparks häufig verschwindenden Menschen zu stellen, muss sogar ihr skeptischer Vater einsehen, dass die ihm bisher als absonderlich erscheinende Freizeitbeschäftigung der Tochter, ihr »Rumhängen mit Leichen«, von großem Nutzen für die Gesellschaft sein kann.
Forensische Botanik
Als eines Tages schließlich der kleine Sohn von Nora und Henrik Saunders verschwindet und immer mehr darauf hindeutet, dass er das Opfer eines Verbrechens wurde, treffen sich die Wege des deutschen Paares und der schwedischen Wissenschaftlerin. Denn Rosa wird in die Suche nach Fynn einbezogen und ganz gegen ihre Aversion jeglicher Art von Teamarbeit gegenüber mit einem jungen Polizisten zusammengespannt, mit dem sie sich langsam auch menschlich näherkommt.
Freilich: Die Suche nach dem Jungen bleibt zunächst erfolglos. Und während Erik davon überzeugt ist, dass zwischen dem Verschwinden seines Sohnes und seinen immer deutlicher werdenden Erinnerungen an das gefangene Mädchen im Baumhaus Zusammenhänge existieren, die auf einen die Gegend schon länger terrorisierenden Pädophilen hindeuten, und Nora einen sie seit Jahren mit seinem Hass verfolgenden Stalker verdächtigt, den Jungen entführt zu haben, bringen Rosas Bemühungen um die Lösung des Falls schließlich die entscheidenden Hinweise, um dem Täter auf die Spur zu kommen. Und der hat tatsächlich mehr als Henrik lieb ist mit seiner Vergangenheit zu tun.
Natur und Mensch
Das Baumhaus ist wie schon Vera Bucks erster Thriller Wolfskinder ein Roman, der zu wesentlichen Teilen in einer Natur spielt, deren Größe und Gewaltigkeit gegenüber der der Mensch nicht nur klein, sondern gelegentlich auch ziemlich hilflos erscheint. Mit einprägsamen Bildern und detailgenauen Beschreibungen vermag es die Autorin, einerseits die Überwältigung ihrer Figuren durch die Landschaft, in der sie sich plötzlich wiederfinden, andererseits aber auch die stets präsente Unheimlichkeit der Szenerie zu verdeutlichen.
Jene ungeheuer großen Wälder in den Naturreservaten an der schwedischen Ostküste vermögen eben nicht nur die in ihnen lebenden Menschen schützend zu umhüllen, sondern sind auch jederzeit in der Lage, ein Gefühl völliger Einsamkeit, des Zurückgeworfenseins auf sich selbst, des Verschwindens des Menschen in der Natur, zu erzeugen. Dies spiegelt nicht zuletzt die nordische Mythologie und Sagenwelt wider, auf die Das Baumhaus Bezug zu nehmen nicht versäumt. Alles in allem hat man mit dem zweiten Roman Vera Bucks jedenfalls die Bestätigung, dass von dieser Autorin sicher noch einiges zu erwarten ist.
Titelangaben
Vera Buck: Das Baumhaus
Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2024
400 Seiten. 17 Euro
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