/

Du bist überall

Roman | Michael Kumpfmüller: Wir Gespenster

»Mein Glück besteht darin, dass ich immer schreiben wollte, spät damit angefangen habe, jetzt aber seit über Jahren schreibe – ich auch weiter schreiben kann, was ja immer eine ökonomische Frage ist«, bekannte Erfolgsautor Michael Kumpfmüller in einem Interview. Die Erfolgsgeschichte des inzwischen 63-jährigen Autors begann im Jahr 2000 mit seinem von der FAZ damals vorab gedruckten Romanerstling Hampels Fluchten. Mit Nachfolgewerken wie den verfilmten und in 27 Sprachen übersetzten Roman Die Herrlichkeit des Lebens (2011), Die Erziehung des Mannes (2016) und Tage mit Ora (2018) feierte er respektable Erfolge. Von PETER MOHR

Zuletzt hatte Kumpfmüller in Mischa und der Meister (2022) Jesus in die Handlungsgegenwart beordert und ihn leibhaftig in Berlin auftauchen lassen. Nun präsentiert sich der Autor noch erheblich experimentierfreudiger. Wir gehen auf eine literarische Reise ins Reich der Gespenster, die mal komisch, mal märchenhaft-absurd, aber vor allem reichlich irritierend daherkommt. »Du bist nicht mehr da, wo du warst. Trotzdem bist Du überall.«

Es geht um einen Mord im Diesseits und eine zarte Liebesgeschichte im Jenseits. Im Mittelpunkt stehen die kinderlose Osteopathin Lilli, Frau eines Arztes, und Kommissar Andrä, der schon seit Jahren tot ist und dessen beruflicher Ehrgeiz im Jenseits neu entfacht wird. So weit, so fantasievoll.

Der Roman beginnt damit, dass die junge Lilli im Park ermordet wird, und plötzlich ihr Geist neben ihrer Leiche steht. Der Täter wird im Diesseits nicht gefunden, aber im Jenseits eröffnen sich neue Spuren. Das im Totenreich angekommene Mordopfer und der ehemalige Kommissar Andrä freunden sich an, hören gemeinsam den Lebenden zu und werden schließlich ein Liebespaar. Oder ist es nur Andräs kriminalistische Ehre, sein Verlangen den Mord aufklären zu wollen, dass ihn in Lillis Arme trieb? Im Reich der Gespenster scheint nichts unmöglich zu sein. Jedenfalls wirken Andräs Bemühungen überhaupt nicht geisterhaft, sondern erinnern an bekannte Sequenzen in TV-Krimis: Inaugenscheinnahme des Tatorts, Spurensicherung, Zeugenbefragung und auch mal flotte Sprüche.

Lilli und Andrä sind meist unsichtbar und nicht zu hören, viele Erinnerungen kehren plötzlich zurück und verschwinden ebenso unvermittelt wieder. Die Existenz im Diesseits unterscheidet sich kaum vom »wirklichen Leben«. »Unser zweites Leben dauert nicht ewig, also genieße es und lass die Vergangenheit Vergangenheit sein«, resümiert eine der Nebenfiguren.

In Wir Gespenster erzählt Kumpfmüller auf unterhaltsam-launige Weise die skurrile Geschichte einer Liebe in der Geisterwelt, verknüpft mit einem Kriminalfall, der am Ende gelöst wird. Über allem schwebt aber Lilis Suche nach ihrer eigenen Geschichte. Das ambitionierte Anliegen der Toten ist es, herauszufinden, wer sie gewesen sind. Da sind sie den Lebenden sehr ähnlich.  Muss man dafür ins Reich der Gespenster wechseln? Einen plausiblen Grund dafür hat Michael Kumpfmüller mit seinem Roman nicht geliefert.

| PETER MOHR

Titelangaben
Michael Kumpfmüller: Wir Gespenster
Köln: Kiepenheuer un28d Witsch 2024
243 Seiten, 24 Euro
| Erwerben Sie den Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr von Michael Kumpfmüller in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Drastische Erziehungsmaßnahmen

Nächster Artikel

Vom Erinnern und Vergessen

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Eine schwarze Feder gibt’s aus London

Film | Im TV: TATORT – Großer schwarzer Vogel (RBB), 9. Februar Leicht ist es nicht, darüber nachzudenken, was ein so gewichtiger Titel bedeuten mag. Ein schwarzer Vogel kommt in diesem TATORT genaugenommen kaum vor. Gut, ein paar Mal fliegen Krähen über Land. Eine schwarze Feder taucht überraschend aus London auf. Sonst? Muss man halt drüber nachdenken. Von WOLF SENFF

Entführt für einen großen Plan

Roman | Robert Wilson: Die Stunde der Entführer Zum dritten Mal lässt Robert Wilson seinen »Kidnapping Consultant« Charles Boxer aktiv werden. Diesmal werden innerhalb von 24 Stunden gleich 6 Milliardärskinder in London entführt. Über ihre Forderungen schweigen sich die Täter erst einmal aus. Lediglich eine Aufwandsentschädigung von insgesamt 150 Millionen Pfund – je 25 Millionen von jedem der Superreichen aus aller Welt – soll zu einem bestimmten Termin bereitstehen. Damit die Opfer freilich zu ihren Familien zurückkehren können, verlangt man kein Geld, sondern Signale für ein globales Umdenken. DIETMAR JACOBSEN hat Wilsons Die Stunde der Entführer gelesen.

Auftritt: Die Ex vom BKA

Film | TV: Tatort Die Wahrheit stirbt zuerst (MDR), 16. Juni: Meine Güte – kann Katja Riemann toll eklige Weiber spielen! Und wie charmant Andreas Keppler ihre entzückende Visage beschreibt! Boshaft? Nicht doch! Auch an Eva Saalfeld teilt er aus, »ihr«, sagt er, »hängt die Müdigkeit wie Würmer aus den Augen!« Das ist nicht fein – nein, das gehört sich nicht. Wir lernen, wie Keppler mit den Mädels umspringt, das ist die halbe Miete. Von WOLF SENFF

Für Rührseligkeit bleibt keine Zeit

Film | TV: TATORT – Auf ewig Dein (WDR), 2. Februar Da schickt sie, schwanger, den Papa in spe nach Hause, und als er die Tür hinter sich schließt, bricht sie heulend zusammen. Schnitt, nächster Tag: Nora Dalay (Aylin Tezel) und Daniel Kossik (Stefan Konarske) sitzen nebeneinander im Dienstwagen. Hat jemand behauptet, dass TATORTe Krimis seien? Man darf das nicht missverstehen. Wenn sie gut sind, führen sie uns in künstlerischer Dichte vor, wie die Dinge sich abspielen im Leben, im Alltag. Fünfundvierzig Filmminuten später die Versöhnungsszene – es pendelt hin und zurück, für Rührseligkeit wird keine Zeit verplempert. Von WOLF

Auf der Suche nach einem Football-Star

Roman | Louisa Luna: Abgetaucht

Mehr als dreißig Jahre ist es inzwischen her, dass der populäre Footballspieler Zeb Williams mitten in einem Spiel auf und davon lief. Gerade sollte das letzte Viertel des Traditionsmatchs zwischen den Universitäten von Berkeley und Stanford vor mehr als 60.000 Zuschauern angepfiffen werden, als der zur Mannschaft von Berkeley gehörende Mann sich den Ball griff und aus dem Stadion sprintete. Seitdem wurde er nur noch einmal gesehen - von einem kurz nach dem Zwischenfall mit der Suche nach dem Sportidol beauftragten Detektiv in der Kleinstadt Ilona in Oregon. Und genau dort hofft Alice Vega, die Spezialistin im Aufspüren verschwundener oder entführter Personen, im Auftrag der Familie einer Ex-Freundin von Williams drei Jahrzehnte später auf Spuren des Vermissten zu stoßen. Und landet in einer von einer ultrarechten Hassgruppe terrorisierten Gegend, in der jeder Tag ihr letzter sein könnte. Von DIETMAR JACOBSEN