John Stuart Mills Schrift ›Über die Freiheit‹ aus dem Jahr 1759 ist bis heute aktuell in ihren Warnungen vor der »Tyrannei einer Mehrheit« und in der Verteidigung eines Freiheitsbegriffs, der nahezu alles erlaubt, solange die »die Schädigung anderer verhütet wird«. Snyder bezieht sich in seinem neuen Buch ›Über Freiheit‹ auf Mill, fügt aber Wesentliches hinzu: Die positiven Freiheiten, ohne die es Snyders Erfahrung nach nicht möglich ist, frei zu sein und zu handeln. Nun legt der unermüdlich gegen Putin wie gegen Trump ankämpfende Historiker ein Buch vor, das erklärt, was Freiheit bedeutet, wie sie oft missverstanden wird und warum sie unsere einzige Chance ist zu überleben. DIETER KALTWASSER hat das Buch gelesen.
Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit von Verboten, nicht nur Abwesenheit von Behinderungen oder Schranken in unserem und für unser Handeln, d. h. negative Freiheit, sondern sie schafft Räume für selbständiges und eigenverantwortliches Handeln, eben positive Freiheit. Snyders Buch ist, so sein Autor, »konservativ, weil es aus der Tradition schöpft, gleichzeitig aber radikal, weil es etwas Neues propagiert. Es ist Philosophie, aber es beharrt auf Erfahrung.«
Geschrieben hat Timothy Snyder seinen brillanten und lehrreichen Essay zum großen Teil während dreier Reisen in die vom russischen Angriffskrieg gebeutelte Ukraine, deren Volk Timothy Snyders uneingeschränkte Solidarität gilt. Denn »kein Mensch erlangt Freiheit allein. Praktisch und ethisch bedeutet Freiheit für dich Freiheit für mich. Dies anzuerkennen ist Solidarität, die letzte Form der Freiheit.«
Nach seiner politischen Streitschrift ›Über Tyrannei‹ und einem zeitgeschichtlichen Buch ›Der Weg in die Unfreiheit‹ wurde er gefragt, wie denn ein besseres Amerika aussehen könnte. Das neue Werk »beginnt mit einer einleitenden Betrachtung über die Freiheit und endet mit einer Betrachtung über die Regierung.« Die fünf Kapitel dazwischen »weisen einen Weg von der Philosophie zur Politik«.
Die Methode ist dabei Teil der Antwort: »Es mag eine Wahrheit über die Freiheit geben, aber wie werden sie nicht allein oder allein durch Deduktion herausfinden. Freiheit ist etwas Positives; sie in Worte zu fassen ist genauso ein Akt der Schöpfung, wie sie zu leben«. Wenn sich »liberal« nennende Parteien von einem Weniger an Staat sprechen, genau dann ist der Begriff der »negativen Freiheit« im Spiel. Diese Reduktion ist gefährlich, so Snyder. Sie ist ein eine der Ursachen für den heutigen Zustand der Welt, der uns in immer tiefere Katastrophen führt. Er stellt den Begriff der negativen Freiheit dem der positiven gegenüber.
In seinem Buch gelingt es ihm, Freiheit genauer zu definieren. Dies beginnt mit der Rettung des Wortes vor übermäßigem Gebrauch und Missbrauch. Er befürchtet, dass in seinem eigenen Land, den Vereinigten Staaten, von Freiheit gesprochen wird, ohne wirklich darüber nachzudenken, was sie bedeutet: »Amerikaner denken oft an die Abwesenheit von etwas. Von Besatzung, Unterdrückung und sogar von Regierung. Ein Individuum ist frei, glauben wir, wenn die Regierung aus dem Weg ist. Negative Freiheit ist unser gängiges Verständnis.« Und er schreibt, dass die Amerikaner gerne glauben, dass die Freiheit eine Frage der Beseitigung von Dingen sei und der Kapitalismus diese Dinge für uns erledige. Sie nennen Amerika ein »freies Land, doch kein Land ist frei. Nur Menschen können frei sein. Wirkliche Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit von Verboten und Beschränkungen, sondern sie ermöglicht Freiräume für selbstbestimmtes Handeln.« Es sei verlockend, Freiheit als »wir gegen die Welt zu betrachten«, wie es dieser negative Freiheitsbegriff ermögliche. Aber so fragt Snyder, »reicht die Beseitigung von etwas in der Welt aus, um uns frei zu machen? Ist es nicht mindestens genauso wichtig, Dinge hinzuzufügen?«
Wie manifestiert sich Freiheit in unserem Leben? Die Verbindung zwischen der Freiheit als Prinzip und der Freiheit als Praxis bilden die fünf Formen der Freiheit, heißt es in dem Buch. Anhand der fünf Säulen Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität und Solidarität wird die positive Idee von Freiheit erläutert sowie die Vorstellung, dass der Mensch zu ihr auch erzogen werden muss.
Souveränität ist für Snyder die erlernte Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, Unberechenbarkeit die Fähigkeit, physikalische Gesetzmäßigkeiten den persönlichen Zwecken anzupassen. Mobilität oder die Fähigkeit, sich wertegeleitet durch Raum und Zeit zu bewegen. Faktizität oder der Bezug zur Welt, der es uns ermöglicht, sie zu verändern; und Solidarität oder die Erkenntnis, dass Freiheit für alle da ist.
Wenn Menschen frei sein wollen, werden sie bejahen, nicht nur verneinen müssen, sie werden schöpferisch tätig sein müssen. »Wir brauchen Strukturen, und zwar genau die richtigen, sowohl moralische als auch politische. Tugend ist untrennbarer Bestandteil von Freiheit.«
Im Dezember 2019 erkrankte Snyder schwer. Während sein Leben an einem seidenen Faden hing, wurde ihm bewusst, wie profitorientiert das Gesundheitswesen in den USA ist und wie wenig alle Rechte und Freiheiten wert sind, wenn das Menschenrecht auf eine gute medizinische Versorgung nicht dazu gehört. Snyder definiert Freiheit als Verbindung aus individueller und gesellschaftlicher Freiheit. Er verfolgt in seinem Buch einen weiteren Gedanken, den er bei der Philosophin Edith Stein gefunden hat: Während diese im Krieg Verwundete versorgte, kam ihr der Gedanke, dass es eine Funktion unserer Leiblichkeit ist, den anderen Leib (als beseeltes Dasein) anzuerkennen. Aus diesem Gedanken entwickelt Snyder seine Philosophie des Leibes, der mehr ist als nur ein »verdinglichter Körper«.
Er schreibt: Die »Natur gibt uns die Chance, frei zu sein: nicht weniger und nicht mehr. Man sagt uns, dass wir ›frei geboren‹ sind: Das stimmt nicht. Wir werden schreiend geboren, verbunden mit einer Nabelschnur und bedeckt mit dem Blut einer Frau. Ob wir frei werden, hängt von den Handlungen anderer ab, von den Strukturen, die diese Handlungen ermöglichen, von den Werten, die diesen Strukturen Leben einhauchen – und erst dann von einem Flackern der Spontaneität und dem Mut unserer eigenen Entscheidungen.«
Snyder betont: »Die Strukturen, die uns behindern oder befähigen, sind physischer und moralischer Natur. Es ist wichtig, wie wir über Freiheit sprechen und denken. Freiheit beginnt damit, dass wir unseren Geist von falschen Ideen deokkupieren. Und es gibt richtige und falsche Ideen. In einer Welt des Relativismus und der Feigheit ist die Freiheit das Absolute unter den Absoluten, der Wert der Werte. Nicht weil Freiheit das eine Gut ist, dem sich alle anderen beugen müssen. Sondern weil Freiheit die Voraussetzung ist, unter der all die guten Dinge in und zwischen uns fließen können.« Denn »Freiheit ist etwas Positives. Sie in Worte zu fassen ist genauso ein Akt der Schöpfung, wie sie zu leben. Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.« Lektionen über die Freiheit, die uns zum selbstbestimmten und zum gemeinsamen Handeln aufrufen!
Titelangaben
Timothy Snyder: Über Freiheit
München: C.H.Beck 2024
410 Seiten, 29,90 Euro
Reinschauen
| Leseprobe