Alle Menschen sollen – unabhängig von ihren Fähigkeiten, Hintergründen oder besonderen Bedürfnissen – gleichberechtigt und aktiv an der Gesellschaft teilnehmen können. Das findet in ganz unterschiedlichen Bereichen statt, auch in der Schule. Alles ganz einfach, oder? Theoretisch ja, in der Praxis oft leider nicht. Wie es auch gehen kann, erzählt dieses besondere Kinderbuch von Ariane Grundies, freut sich ANDREA WANNER.
Die erste, die an der Aufgabe scheitert, »normal« mit dem Neuen umzugehen, ist die Lehrerin Frau Drakow. Die stellt ihn als Anders vor, betont, dass dieser Name in Schweden, wo Anders Vater herkommt, nicht Ungewöhnliches sei und meint dann »Anders ist also ganz normal«, was die Ersten zum Kichern bringt. Zu seiner Situation im Rollstuhl sagt sie nicht, beziehungsweise stottert etwas Merkwürdiges zusammen:
»Ach so«, sagte sie aber schließlich doch noch, »jetzt hätte ich es fast vergessen. Aber das ist ja auch wirklich nicht so wichtig und heutzutage kein großes Problem mehr. Gott sei Dank.«
Und es geht genauso weiter: »Anders, ich schlage vor, du setzt dich mal – ähm, oder stellst dich da neben Ronja.« Unsicherheit, Vermeidung, Rumgedruckse: Hier klingt gar nichts normal und selbstverständlich. Und Sophie, eines der Mädchen aus der Klasse, rennt dann auch gleich los und schiebt Anders an den zugewiesenen Platz. Unaufgefordert. Was Ronja, die Ich-Erzählerin, nur zu einem »Er ist doch kein Einkaufswagen« veranlasst. Und eigentlich ist genau das der Beginn der Freundschaft zwischen Ronja und Anders.
Noch ahnt Ronja allerdings nicht, welch wichtige Rolle der Neue in ihrem Leben spielen wird. Denn noch ist die Bombe nicht geplatzt, noch haben ihr die Eltern nicht gesagt, dass sie sich trennen werden, bzw. bereits vor längerer Zeit getrennt haben und nur Ronja zuliebe noch so getan haben, als wäre alles in Ordnung. Noch weiß sie nichts von dem neuen Partner der Mutter und dessen beiden Kindern. Aber es steht kurz bevor. Und Anders erweist sich als ausgesprochen hilfreich, wenn vielleicht auch nicht immer so, wie man das erwartet.
So startet eine rasante Geschichte, in der Anders nicht nur die Hexe in Hänsel und Gretel geben wird, sondern vielen Menschen auf seine liebenswerte Art zeigt, was Inklusion wirklich bedeutet. Ariane Grundies gelingt das mit ungeheuer viel Witz und Situationskomik. An keiner Stelle muss sie erklären oder mahnen, die Szenen und die darin vorkommenden Akteurinnen und Akteure sprechen für sich. Das geht alles nicht ohne Komplikationen und Missverständnisse, zeigt aber, dass alles funktionieren kann, wenn man sein gegenüber akzeptiert und ernst nimmt, egal, mit welchen Einschränkungen oder Problemen es zu kämpfen hat. Ronja und Anders gelingt das meistens sehr gut, aber auch nicht immer. Nebenher wir also für das Theaterstück geprobt, zur Probe gewohnt, gestritten und versöhnt. Viele Slapstickelemente sorgen für eine wunderbare Leichtigkeit und die Illustrationen von Regina Kehn tun ein Übriges, um eine Atmosphäre der Unbeschwertheit auch in schwierigen Situationen heraufzubeschwören.
Nein, in Ronjas Leben ist gerade eigentlich nichts wirklich gut, es herrscht im Gegenteil ein ziemliches Chaos. Aber auch das bekommt die Elfjährige irgendwie in den Griff, wie viele Dinge, wenn man sich ernsthaft darum bemüht. Und Anders ist dabei alles andere als ein Opfer, sondern ein Held und Retter! Oder eben eigentlich ganz normal.
Titelangaben
Ariane Grundies: Als Anders in mein Leben rollte
Mit Illustrationen von Regina Kehn
Frankfurt: Rotfuchs 2024
208 Seiten, 14,90 Euro
Kinderbuch ab 9 Jahren
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