Das kann noch nicht alles gewesen sein, ahnt man nach dem letzten Band aus Joachim Meyerhoffs autobiographischem Zyklus Alle Toten fliegen hoch. Nach einem Schlaganfall und emotionalen Ausnahmesituationen flieht der Schauspieler zurück zum mütterlichen Rückzugsort. Nicht nur im familiären Kosmos liegt vieles nah beisammen: Komik und Tragik, Übermut und Absturz, doch Man kann auch in die Höhe fallen. Von INGEBORG JAISER
Er hat als gefeierter Schauspieler den Wladimir in Warten auf Godot gegeben, den Mephisto in Goethes Faust, den Alain im Gott des Gemetzels – und als Schriftsteller sein eigenes Leben in Literatur verwandelt. Sowohl seine schauspielerische Leistung als auch seine Romane wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Nur wenigen doppelbegabten Künstlern dürfte so viel Erfolg vergönnt gewesen sein wie Joachim Meyerhoff.
Doch dann verwandeln ihn die Folgen eines Schlaganfalls von einer spielwütigen »Rampensau« in ein »uraltes Zirkuspferd mit gesenktem Kopfputz«, innerlich ausgebrannt und erloschen. Dünnhäutig und empfindsam stürzt er in eine tiefe Lebens- und Schaffenskrise. Auch die als Neubeginn angedachte »Übersiedlung« (wie der Österreicher sagen würde) vom »Wiener Paradies« ins laute, übergriffige Berlin steht unter keinem guten Stern. Doch selbst das Scheitern vermag keiner mit solch tragikomischer Verve zu erzählen wie Joachim Meyerhoff.
Literarische Referenzen
Vier Jahre sind vergangen seit Hamster im hinteren Stromgebiet, der literarischen Aufarbeitung des apoplektischen Schicksalsschlags. Mit seinem neuesten Roman nimmt Meyerhoff die losen Fäden wieder auf und präsentiert eine fulminante Fortsetzung des inzwischen auf sechs Bände angewachsenen autobiographischen Zyklus Alle Toten fliegen hoch. Kurios mögen nur dem literarisch unbewanderten Leser die vermeintlich abwegigen Titel erscheinen. Bezieht sich Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (2017) auf ein Zitat aus Goethes Werther, verweist der verwunderliche aktuelle Titel Man kann auch in die Höhe fallen auf eine Gedichtzeile Hölderlins. Denn darin soll kein Zweifel bestehen: die deutschen Klassiker hat Meyerhoff noch in jeder Lebenslage inne.
Mit Mitte Fünfzig flieht der gebeutelte Schauspieler vom umtriebigen Berlin an die Ostsee, zurück zu seiner inzwischen 86jährigen Mutter. Eine Reise mit umgedrehten Vorzeichen. Während andernorts Gleichaltrige ihre betagten Eltern pflegen, sucht hier ein seelisch verwundeter Sohn Schutz und Neu-Orientierung bei einer energischen, vitalen, zupackenden Mutter, die über ihre weitläufigen Latifundien mit einem Aufsitzrasenmäher rast und nachts im Mondlicht übermütig auf das Hausdach klettert. Kraft gibt ihr nicht nur ein tägliches Ritual, an dem natürlich auch der Sohn nach Kräften teilhaben wird. Komme, was wolle: pünktlich um 18 Uhr trifft man sich bei einem Glas Whisky mit Blick aufs Meer.
Scham und Bühne
Vordergründig soll der selbstgewählte Rückzugsort der Niederschrift eines neuen Buches mit dem Arbeitstitel Scham und Bühne dienen. Doch bald schon gesellen sich »Kindheitserinnerungen und Mutterbegebenheiten« zu den heraufbeschworenen Theaterszenen. Von denen eine abstruser als die andere ist: Wie eine verunglückte Dschungelbuch-Inszenierung im wütenden Ausruf »Ich mach mich doch hier nicht zum Affen« des Panther-Darstellers gipfelt. Wie der Luftgeist Ariel (alias Meyerhoff) in der Pause unfreiwillig im Bühnenaufzug steckenbleibt. Wie ein Schauspielkollege vom Gorki-Theater seine baufällige Datscha mit ausrangierten Bühnenbildern aufmöbelt – hier eine Fensterfront aus Tschechows Drei Schwestern, dort ein Treppenaufgang aus Gogols Revisor. Das alles ist urkomisch, pointen- und anekdotenreich, jedoch von subtiler Tragik unterwandert. Dabei weiß Meyerhoff sehr wohl um die Einordnung des Genres: »Bei allen literarischen Spielarten am meisten missachtet scheint mir aber unzweifelhaft die Anekdote zu sein. Keiner weiß so recht, was sie eigentlich sein soll […] Sogar der Witz hat es da besser erwischt.“
Neben unvergleichlichen Einsichten ins Theatermilieu ist Meyerhoffs neuer Roman eine Hommage an die Mutter, an eine starke, resiliente Frau, die an den Schicksalsschlägen des Lebens über sich selbst hinausgewachsen ist. Wer die Gabe besitzt, seine eigene Vita in unterschiedlichen Versionen zu erzählen, der wird auch das Hölderlin-Zitat in neuem Licht sehen. Aber ja, man kann auch in die Höhe fallen.
Titelangaben
Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2024
357 Seiten, 26 Euro
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