//

Aus

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Aus

Sie sind von Sinnen.

Von wem redest du?

Gramner rede von der Moderne, er sei besessen von diesem Thema, sagte Pirelli, man müsse ihn verstehen, Ausguck.

Ich weiß, ich weiß. Der Ausguck lächelte. Die Zivilisation kollabiert. Was ist es diesmal?

Das sei nicht lustig, Ausguck, sagte Pirelli.

Der Ausguck stand auf, nahm einige Schritte Anlauf und schlug einen Salto.

Was habe er sich nur immer mit seinem Salto, fragte sich Crockeye.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Die Flammen schlugen hoch.

Rostock wurde es zu heiß so dicht am Feuer.

Die westliche Zivilisation habe, sagte Pirelli, wo sie sich ausgebreitet habe, Krankheiten eingeschleppt, und sie bereite, wo sie heimisch geworden sei, den Boden für neuartige Krankheiten, das sei eine Tatsache, über die zuzeiten der Moderne niemand offen zu reden bereit sei.

Sicher, sagte Farb, dahinter verberge sich weit mehr, denn die Pharmakonzerne hätten ein großes Interesse, ein jedes Wehwehchen als bedrohliches Symptom zu deklarieren und Pillen und Wässerchen anzubieten, am besten sei, darüber gar nicht erst nachzudenken.

Gramner lächelte. Der Mensch habe die Orientierung verloren, sagte er, und wisse nicht, wo unten und wo oben sei, er komme nicht dagegen an, seit neuestem arbeite seine medizinische Forschung an einem Bluttest, der das Sterberisiko vorhersage.

Bluttest?

Sie untersuchen dein Blut und stellen fest, wie regelmäßig deine Organe arbeiten. Der Mensch ist eine Maschine, er möchte ewig leben, er hält die Moderne für ein Maschinenzeitalter.

Sie reparieren den Menschen?

Sie reparieren ihn, sie tauschen Organe aus oder setzen sie wieder instand, sein Herz zum Beispiel erhält einen Zusatz, den sie Schrittmacher nennen.

Er hält das Herz auf Trab?

Er hält es auf Trab. Oder sie tauschen das Knie oder ein Hüftgelenk gegen ein Scharnier. Sie entfernen den Blinddarm, die Mandeln oder eine funktionslose Vene.

Mir reicht’s, Gramner. Das ist alles höchst unappetitlich.

Die Moderne ist eine höchst unappetitliche Epoche, Ausguck, sie kennt keine Grenzen, am Menschen wird herumgedoktert, und wenn du fragst, wird dir niemand Auskunft geben, welches der tiefere Sinn sei.

Es gibt keinen Sinn?

Es gibt ihn nicht, Ausguck. Die Moderne ist ein Rausch, eine Allmachtsphantasie, ein Luftschloß, ein rosarotes Zeitalter der Ingenieure und der ›Macher‹, du findest nichts, das hoffnungsvoll in die Zukunft weist, im Gegenteil, der Planet werde zugrunde gerichtet.

Größenwahn?

Größenwahn, Ausguck. Megalomanie. Die Götter seien für tot erklärt, und der Mensch usurpiere den frei gewordenen Thron, jedoch werde, korrekt zu bleiben, nicht der Planet – der Mensch überschätze sich – zugrunde gerichtet, sagte Gramner, sondern das über Jahrtausende auf ihm gewachsene Leben, und der Eindruck sei nicht falsch, daß der Planet sich gegen die sich aggressiv ausbreitende Zivilisation zur Wehr setze, er verändere sein Klima, Feuersbrünste und Überflutungen würden im Nu zerstören, was der Mensch eben noch als Errungenschaft gepriesen habe.

Touste schlug Akkorde an.

LaBelle hätte gern etwas gegessen.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

London lauschte auf das Flüstern des Ozeans.

Unter den Walfängern breitete sich friedliche Stimmung aus.

Der Mensch befinde sich auf einem Irrweg, sagte Gramner, Krankheit und Seuchen würden ihn begleiten, die Moderne sei zum Scheitern verurteilt, vergiß es, sie sei es von Anfang an gewesen, man werfe nur den Blick auf die Stadt, auf die Goldgräber – die schlechten Eigenschaften blühten auf, Haß und Verachtung griffen um sich.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Games im Museum? 

Nächster Artikel

Kapitalismus für Anfänger*innen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Sonne

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sonne

Unerklärlich, sagte Farb, aus welchen Gründen eine unscheinbare Begegnung tief im Gedächtnis haften bleibt.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine entspannende Sitzhaltung.

Anne schenkte Tee ein.

Ein alter Mann am Strand von En Bokek, sagte Farb, ein Greis, hoch in den Siebzigern, die Schwefelquellen südlich von En Gedi seien, hatte der Mann erklärt, so hochprozentig wie sonst nirgends auf dem Planeten, er suche sie zweimal wöchentlich auf, sagte er, er habe viele andere Orte kennengelernt, kein Vergleich, sagte er, nicht daß er lange Reden hielt, er wirkte wortkarg, seine Sätze blieben kurz, die Stimme leise, unaufdringlich, und zusätzlich, sagte er, arbeite das besondere Klima, er kenne keinen Ort, der dem auch nur annähernd gleichkomme, der Mann redete nachdenklich, besonnen, und nein, das würde kein Gespräch, nein.

Wunderkinder

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wunderkinder

Eldins Schulter?

Kein Ende in Sichtweite.

Kann folglich noch dauern. Scammon?

Hockt achtern in seiner Kajüte über seinen Aufzeichnungen.

Läßt sich nicht blicken?

Läßt sich nicht blicken.

Der Ausguck nickte und ging in den Handstand. Thimbleman ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er applaudierte.

Zivilisation III

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zivilisation

Nein, unmöglich, sagte Harmat, wie solle er sich das vorstellen.

Bildoon lächelte. Zum Ende, sagte er, es gehe auf das Ende zu.

Mit Siebenmeilenstiefeln, spottete Crockeye.

Gewiß, das habe er verstanden, schön und gut, sagte Harmat, aber wie – werde da ein Gong geschlagen, eine Glocke geläutet, knipse jemand das Licht aus.

Wie aus der Ferne klang sanft das Rauschen des Ozeans.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Wette

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wette

Wette, sagte Annika, sie habe mit Wette gesprochen, er sei daran interessiert, Doppelkopf zu spielen, was nicht als Absage zu verstehen sei, aber sie möge gern auch Hüttmann fragen.

Schön, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne, die Farb auf der Pflaumenschnitte langsam und sorgfältig glattstrich.

Wette, sagte Farb, hatte Wette nicht Psoriasis, eine Zeitlang sogar im Gesicht, die Haut sei ein sensibles Organ.

So etwas grenze dich aus aus dem Alltag, sagte Tilman, du wirst nicht länger als zugehörig empfunden, doch allem Anschein nach sei das besser geworden.

Zufall oder Fortune

Kurzprosa | Hans-Magnus Enzensberger: Tumult Zum 85. Geburtstag des Schriftstellers Hans-Magnus Enzensberger  am 11.11. erscheint der autobiografische Band Tumult. Von PETER MOHR