Risse in den Welten

Jugendbuch | Lisa Krusche: Wie der seltsamste Traum

Pauli, Eliotts Freundin, ist plötzlich verschwunden. Eliott meint, sie sei in einen Hut gefallen, aber das kann keiner glauben. Nur: Sonst ist sie nirgends zu finden. Notgedrungen müssen sich doch mit einem Menschen wegen Eliotts verrückter Behauptung auseinandersetzen. Von ANDREA WANNER

Ein umgedrehter Hut, der auf einer Wiese liegtMit Paulis Verschwinden fangen eine Menge Probleme an. Ihr Vater, ein Philosoph, vermisst sie zunächst nicht weiter. Aber Eliott, mit dem sie auf dem Rückweg vom Tanzen war, macht sich Vorwürfe. Und er weiß, dass er Hilfe braucht, um Pauli zurückzuholen. Zu dumm nur, dass die naheliegendste Person ausgerechnet Pola, Paulis beste Freundin ist. Pola ist megacool, immer top gestylt und macht Eliott Angst. Überhaupt kommen die beiden überhaupt nicht miteinander klar – sehr zum Leidwesen von Pauli. Jetzt jedenfalls müssen sie zusammenhalten, auch wenn das so ziemlich das Letzte ist, was sich die beiden wünschen. Und dann taucht da auch noch Jens Armin auf, der mit seinen langen Armen vielleicht die Rettung sein könnte.

Lisa Krusches Geschichte ist schlicht eine Wucht. Sie fängt ein bisschen wundersam an, holpert und stolpert, so wie Eliott, der auch eher tollpatschig und ein bisschen verpeilt ist und nur beim Tanzen zu sich selbst findet. Wie er da ohne seine Freundin am Eisstand steht und Delfin mit Sahne und Streuseln bestellt und plötzlich feststellt, dass er ohne Begleitung ist und sich dabei doch ganz sicher ist, dass sie zu zweit waren, erzählt einiges über ihn. Arturo, der Eiskäufer, bestätigt allerdings, dass er alleine gekommen sei. Wo steckt seine Freundin? Irgendwie denkt man da noch eine ein bisschen verrückte Kindergeschichte. Das ändert sich spätestens, als Pola auftritt. Pola, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter aufwächst. Oder sollte man sagen, ohne? Die Mutter lässt sich total gehen, seit ihr Mann sie wegen einer anderen verlassen hat, die Wohnung verkommt. Bis auf Polas Zimmer, um das die sich selbst kümmert. So wie um sich und ihr Aussehen. Sie ist gründlich und weiß, dass Worte ihre Grenzen haben. Da helfen dann nur Gedichte, Poesie, die das hat, was der normalen Sprache fehlt. Die Gefühle zum Ausdruck bringen kann, wo Alltagsworte versagen.

Und Pauli? Von ihr erfahren wir zunächst aus ihrem Tagebuch, wo sie vom Verlust ihrer Mutter erzählt und der Unfähigkeit ihres Vaters, damit klarzukommen. Und dann folgen wir ihr in den Hut, in den sie tatsächlich gefallen ist, ähnlich wie seinerzeit Alice ins Kaninchenloch. Auch sie landet in einer anderen Welt, die auf merkwürdige Weise mit unserer verbunden ist und wo die pflanzenähnlichen Wesen, die dort leben, durch Berührung kommunizieren. Auch sie macht die Erfahrung, wie unzulänglich unsere menschliche Sprache ist und wie anders, wie komplett man sich dort einem anderen Wesen mitteilen kann. Irgendwie will sie, die so große Angst vor der Dunkelheit hat, diese graue Welt gar nicht mehr verlassen.

Krusche verknüpft die Welten an den unterschiedlichsten Stellen durch Figuren, Bilder, Andeutungen, sodass sich allmählich ein großes Ganzes ergibt, in dem alles mit allem zusammenhängt und wo Störungen und Verletzungen weitreichende Folgen für alle haben. Aber es dauert, bis das alle verstehen, bis sie die Möglichkeit haben, etwas Konkretes zu tun.

Bis dahin folgen wir der Autorin von »Unsere anarchistischen Herzen« und »Das Universum ist verdammt groß und super mystisch« auf der verrückten Reise, lassen uns auf Hexen und Weltenwanderer, auf Mysterien und Magie ein und sind verzaubert von einer Sprache voller Poesie, voller Zitate und literarischer Anregungen. Wie bei Pola verlieren sich Gewissheiten und rationale Erklärungen und machen etwas anderem Platz. Es ist alles viel komplizierter, als man sich das vorstellen kann. Dinge und Geschehnisse sind ineinander verwoben, bedingen sich gegenseitig und das Gleichgewicht, das alles in Ordnung hält, ist labil.

Ein bisschen Märchen und sehr viel Alltag und reale Probleme mischen sich in dem kleinen Meisterstück, das man mit seinen Feinheiten und sprachlichen Kapriolen einfach nur genießen kann.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Lisa Krusche: Wie der seltsamste Traum
Weinheim: Beltz & Gelberg 2024
263 Seiten, 17 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kreolische Walzer

Nächster Artikel

Alte Wunden

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Überlebensstrategien

Jugendbuch | Anna Woltz: Atlas, Elena und das Ende der Welt

Manche ersten Begegnungen stehen einfach unter keinem guten Stern. Dazu gehört eindeutig die von Elena und Atlas. Aber es kommt noch schlimmer. Von ANDREA WANNER

Worte oder Wörter?

Jugendbuch | Dirk Pope: Still!

Nichts mehr im rechten Winkel. Wenn sich Eltern trennen, leiden auch die Kinder. Und wie sie das verarbeiten, ist sehr unterschiedlich. Mariella zum Beispiel redet nicht mehr. Und das verursacht Probleme, für sie in der Schule, für ihre Mutter, für die Lehrer. Aber so richtig Verständnis hat dafür fast niemand. Außer Stan, der auch nicht redet. Von GEORG PATZER

Außenseiter trifft Außenseiter

Jugendbuch | Saša Stanišić: Wolf

Bei Ferienlagern scheiden sich die Geister. Die einen geraten in Entzücken, die anderen sind bei der puren Vorstellung entsetzt. Kemi gehört zu letzteren und berichtet von einer Woche im Wald. Von ANDREA WANNER

Die Vision einer runden Erde

Jugendbuch | Volker Mehnert: Magellan Oder Sternstunden der Seefahrt

Es ist schon lange her, rund 500 Jahre, und doch ist das Abenteuer der Weltumsegelung von 1519 immer noch ein fesselndes Abenteuer: Magellan und 265 Mann Besatzung auf fünf hölzernen Schiffen starten im September vom südspanischen Sanlúcar de Barrameda. Der portugiesische Seefahrer bricht auf im Auftrag der spanischen Krone. Ob es den Seeweg über eine Westroute zu den berühmten Gewürzinseln gibt? Von BARBARA WEGMANN

Einladung zur Toleranz

Jugendbuch | Julius Thesing: You don’t look gay

Vielleicht war ich lange sehr naiv. Schwule und Lesben in unserer Gesellschaft? Nicht wirklich ein Problem. Klar, es gab und gibt Menschen mit Vorurteilen, aber im 21. Jahrhundert ist das doch wohl eine verschwindende Minderheit. Von ANDREA WANNER