Drei Dekaden Rütteln am menschlichen Dasein

Digitalspielkultur | Grand Theft Auto

›Grand Theft Auto‹ (›GTA‹): in Kürze die weltweit erfolgreichste Videospielreihe. Ein Rückblick aus dem Jahr 2025 auf 28 Jahre und 16 Spiele – von Dr. DANIEL MEIS

Wer die Videospielreihe ›Grand Theft Auto‹ (›GTA‹) zu quantifizieren versucht, stößt vor allem auf Superlative: 28 Jahre, 425 Millionen abgesetzte Exemplare, umstrittene Inhalte, 16 Teile, Bewertungen von regelmäßig um die 95 Prozent. Und wer Anfang des Jahres 2025 auf den für Herbst ankündigten 17. Ableger blickt, sieht gar die ›GTA‹-eigenen Rekorde wackeln: 2013 erreichte beispielsweise ›Grand Theft Auto V‹ nur zwei Tage nach Veröffentlichung die Marke von einer Milliarde US-Dollar Umsatz – ›Grand Theft Auto VI‹ hat jedoch bereits Anfang 2025 durch Vorbestellungen diesen Gipfel überschritten.

Die Aufzählung von Höchstwerten ließe sich fortsetzen von den durch ›GTA‹ gesetzten Trends, über die Meilensteine innerhalb der Reihe selbst bis hin zur populärkulturellen Rezeption. So oder so ist der anstehende 17. Teil ›Grand Theft Auto VI‹ ein hinreichender Grund, den Medienhistoriker einmal den Rückblick auf die gesamte Reihe wagen zu lassen. Dabei wird offenbar: die Reihe veränderte sich erheblich, besaß dabei stets einen Kern an Kontinuität und wird je nach Ableger unterschiedlich stark rezipiert. Oder wie der Historiker gerne sagt: Nichts ist so beständig wie der Wandel.

Ein Mann in Unterhemd und eine Frau sitzen auf der Motorhaube eines alten amerikanischen Straßenkreuzers, der Einschusslöcher hat.
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Fachwissenschaftliche Beschäftigungen mit ›GTA‹ fallen bislang dennoch höchst unbefriedigend aus. Verteilte kleinere Beiträge und Aufsätze, sowie der Sammelband von Nate Garrelts aus 2006 und die Monografie von David Kushner aus 2012 können eine detaillierte Beschäftigung mit dieser Reihe nicht ersetzen. Dazu ist auch der vorliegende Beitrag nicht imstande. Doch ist es auch gar nicht sein Ziel. Seine Funktion liegt vielmehr in einem medienhistorisch fundierten, populärwissenschaftlichen Blick auf die bald erfolgreichste Videospielreihe. Aktuell mögen die ›GTA‹-Spiele dabei auf Platz 4 liegen, sind jedoch hauchdünn hinter ›Call of Duty‹, nur noch rund 50 Millionen Verkäufe hinter ›Pokémon‹ und 65 Millionen hinter ›Tetris‹. Durch ›Grand Theft Auto VI‹ wird die Reihe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit spätestens zum Weihnachtsgeschäft 2025 vor ›Tetris‹ rücken.

Wem jedenfalls an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung von ›GTA‹ liegt, sei auf eine in Konzeption befindliche Anthologie hingewiesen. Ann-Kathrin Michelle Günther, Rudolf Thomas Inderst, Leonie Eva Konietzko und der bescheidene Verfasser der vorliegenden Zeilen, Daniel Meis, bereiten Laufe 2025 einen inter- wie transdisziplinär ausgerichteten Sammelband zu der Spielreihe vor. Dieser wird verschiedene Aspekte der ›GTA‹-Spiele und diverse Perspektiven auf Inhalte, Einbettung in die Welt der Videospiele, Rezeptionsfragen und vieles weitere einnehmen. Bis dahin seien die geneigten Lesenden mit vorliegendem Beitrag vertröstet.

Nachfolgend wird zuerst ein allgemeiner Rückblick auf die ständige Fortentwicklung der Videospielreihe gegeben. Dabei geht es um Fragen der steten Weiterentwicklung und der Abstände zwischen den einzelnen Teilen. Hiernach geht es um den Spieleaufbau. So werden die Spielprinzipien, deren Variationen im Laufe der Zeit und diverse einschneidende Veränderungen besprochen. Danach werden besonders ausführlich die Inhalte in den Blick genommen. Hierzu zählen die Kontinuitäten und individuellen Spezifika der Handlungsstränge, die personelle Tiefe der Protagonisten, sozialkritische Zwischentöne und immer wieder aufblitzende moralische Zwickmühlen für die Spielenden. Ein kurzes Fazit rundet den Beitrag ab.

Fortentwicklung über knapp drei Dekaden

Die ›GTA‹-Reihe als statisch und mit einem Spiel abgeschlossen zu begreifen, liegt weit neben Spielerlebnis der Rezipienten und Anspruch der Entwickler. Grundsätzlich versuchte ›Rockstar Games‹ bei jedem Teil große Schritte: Neuester Stand des technisch Möglichen und ein inhaltlich tunlichst rundes Produkt. Dabei gingen die Entwickler immer wieder große Risiken ein und verzichteten zugleich auf eine übertriebene Kommerzialisierung.

Riskant waren dabei beispielsweise die erheblichen Investitionen in Spiele, deren Erfolg nie gesichert war, vor allem nach zahlreichen Kritiken an vermeintlicher Gewaltverherrlichung und Verrohung. Gleichzeitig wurde ›GTA‹ ökonomisch nie bis zum Äußersten ausgereizt, wurden doch mehrfach Spiele zur besseren Entwicklung immer wieder verschoben und selbst teure Updates bis auf Features bei ›Grand Theft Auto Online‹ konsequent ausgelassen. Sogar die immer wieder seitens der Fangemeinde diskutierte Adaptierung eines Spielfilms unterließ Rockstar mit dem vielsagenden Argument, sie hätten hierfür keine ausreichende Expertise, würden aber bei einem ›GTA‹-Film auch rundum ›GTA‹ garantieren, ihn dann also selbst machen wollen. Solcherlei Ansprüche an das eigene Entwicklungsteam haben zwangsläufig Auswirkungen auf die sehr heterogenen Abstände zwischen den einzelnen Teilen. Auffällig ist etwa die häufige Anpassung an neue Konsolen und gar die Neuveröffentlichung alter Teile nach technischer und optischer Überarbeitung. Im Allgemeinen wurde die eigene Raffinesse immer wieder übertroffen.

Im ersten Teil von ›Grand Theft Auto‹ aus dem Jahre 1997 steuern die Spielenden ihre Protagonisten noch aus der Vogelperspektive in einer 2D-Welt. Der Handlungsstrang ist relativ ungebunden, die einzelnen zu absolvierenden Missionen in der Open World wenig abwechslungsreich. Und doch war das Spiel nicht nur sehr gefragt, sondern gar ein Meilenstein. Speziell das Prinzip der Open World wurde positiv aufgenommen. Ähnlich war es bei dem 1999 erfolgten Add-on mit erweiterter Spielwelt ›Grand Theft Auto: London 1969‹ (›GTA London 1969‹) sowie dessen Add-on ›Grand Theft Auto: London 1961‹ (›GTA London 1961‹). Noch im Jahre 1999 ging ›Grand Theft Auto 2‹ (›GTA 2‹) einen weiteren großen Schritt nach vorne. Storyfortschritte variieren bei ›GTA 2‹ nach Handlungen in den Missionen, Handlungen in den Missionen ziehen veränderte Reaktionen der Umwelt auf den Protagonisten nach sich. Zudem konnte nun der Zwischenstand gespeichert werden. Außerdem handelte es sich jetzt um eine 3D-Welt, wenngleich die Vogelperspektive dies nur eingeschränkt spüren lässt.

Einen großen Wendepunkt für die Reihe bedeutete das 2001 veröffentlichte ›Grand Theft Auto III‹ (›GTA III‹). Der ökonomische Erfolg sprach für sich. Technisch betrachtet befinden sich die Spielenden nunmehr in einer 3D-Welt samt verstellbarer Kameraperspektive. Die Open World ist von einem für 2001 kaum vergleichbaren Ausmaß, und der abwechslungsreiche wie hoch dramatische Handlungsstrang bot theoretisch genügend Material für einen Hollywood-Streifen. Dieses gesamte Prinzip wurde 2002 in ›Grand Theft Auto Vice City‹ (›GTA VC‹) noch verbessert und erweitert, um 2004 mit ›Grand Theft Auto San Andreas‹ (›GTA SA‹) im bis ›Grand Theft Auto V‹ meist rezipierten Ableger zu münden. ›GTA SA‹ übertraf die Spielwelten seiner Vorgänger um ein Vielfaches, lässt die Spielenden noch mehr in Details, Moralfragen und Storytelling eintauchen, und ist finanziell bis heute der dritterfolgreichste Teil. Das ebenfalls 2004 veröffentlichte Handheld ›Grand Theft Auto Advance‹ (›GTA A‹) blieb ob der Überlegenheit von ›GTA SA‹ etwas im Schatten, was sicherlich auch am Rückgriff auf die Vogelperspektive liegen mag.

Während die einzelnen Teile bis einschließlich 2004 in einem gemeinsamen Universum spielen, dabei aber isolierte Handlungen aufweisen, erweitern die hiernach veröffentlichten Spiele das Geschehen auf der Metaebene entscheidend weiter. ›Grand Theft Auto Liberty City Stories‹ (›GTA LCS‹) von 2005 und ›Grand Theft Auto Vice City Stories‹ (›GTA VCS‹) von 2006 fallen dabei jedoch kleinräumiger und in ihren Handlungen weniger komplex aus. Auch die Umsätze blieben weit hinter den Vorgängern, wobei deren Maximierungen auch gar nicht im Fokus standen. Vielmehr wurden neue Ableger auf dem neuesten technischen Stand entwickelt, welche sich finanziell lohnen, aber keine Rekorde brechen mussten.

Dies war erst 2008 der Anspruch mit ›Grand Theft Auto IV‹ (›GTA IV‹). Der neue Teil war seinen Vorgängern technisch weit voraus, eröffnet eine detaillierte und eng bebaute Map und liefert eine emotional mitreißend strukturierte Geschichte. Die Bewertungen für ›GTA IV‹ gingen so weit, das Spiel als beinahe perfekt darzustellen; Bewertungen von knapp unter 100 Prozent waren der Normalzustand. Um die Handlung von ›GTA IV‹ um weitere Protagonisten zu erweitern, erschienen 2009 drei kürzere Teile mit eigenen Hauptpersonen und Storys, welche sich mit dem gleichzeitig spielenden ›GTA IV‹ überschnitten. ›Grand Theft Auto IV: The Lost and Damned‹ (›GTA IV: TLAD‹), ›Grand Theft Auto The Ballad of Gay Tony‹ (›GTA TBoGT‹), und ›Grand Theft Auto Chinatown Wars‹ (›GTA CW‹) brachten jeweils auch den jüngsten technischen Stand mit, wurden rundum fast so positiv rezensiert wie ›GTA IV‹, und zeitigten geschäftlich ansehnliche Ergebnisse.

Die Arbeiten am nächsten Teil gingen unmittelbar weiter, die Fertigstellung wurde aber immer wieder nach hinten verschoben. Erst 2013 erschien ›Grand Theft Auto V‹ (›GTA V‹) – und brach unerwartet eine Bestmarke nach der anderen. Die Open World ist rund doppelt so groß wie bei ›GTA SA‹, die Handlung komplizierter und unberechenbarer, die moralisch-ethischen Zwickmühlen kniffliger. Zudem steht erstmals bei den 3D-Spielen nicht nur ein Protagonist im Mittelpunkt, sondern gleich drei, zwischen denen zu wechseln ist. Die Spielwelt bietet mehr Details als je zuvor, die technischen Feinheiten setzten erneut Maßstäbe. Noch 2013 wurde zudem ›Grand Theft Auto Online‹ (›GTA O‹) veröffentlicht oder eher freigeschaltet. Die Spielwelt ist jene aus ›GTA V‹, erhält aber laufend Erweiterungen samt neuer Missionen, Orten, Fahrzeugen und Weiterem. Die aktuell jüngste stammt vom Dezember 2024.

›Grand Theft Auto VI‹ (›GTA VI‹) wird aller Voraussicht nach auch dies übertreffen. Die lange Entwicklungszeit spricht für sich, ebenso Leaks über Zwischenstände und Meilensteine im Entwicklungsprozess. Die Map scheint vier bis fünf Mal größer als bei ›GTA SA‹ zu sein, das Gameplay noch detaillierter als bei ›GTA V‹. Ob der Termin im Herbst 2025 zu halten sein wird, sei dahingestellt. Die Produzenten arbeiten wohl mit Hochdruck, haben aber noch viel auf ihrer Liste stehen. Schon jetzt scheint absehbar, dass ›GTA VI‹ nicht rundum fertig erscheinen wird, sondern per Download nach und nach erweitert werden muss. Ob sich dies auf das Spiel selbst bezieht oder schlicht ein neuer Online-Teil erscheint, ist noch unklar.

Spieleaufbau

Das Spielprinzip ist grundsätzlich bei allen Teilen gleich. Der jeweilige Protagonist agiert mit großer Freiheit in der Open World samt etlichen Aktivitäten vom Golfplatz bis zum Stripclub. Es können Hauptmissionen zum Vorantreiben der Handlung absolviert und Nebenmissionen mit kleineren Belohnungen durchgeführt werden. Die Komplexität der Aufträge schreitet dabei nach und nach voran. Ein Scheitern zwang die Spielenden bis einschließlich ›GTA IV‹ zum Neustart der Mission von Beginn an, statt ab bestimmten Meilensteinen. Bemerkenswert ist zudem der Umgang mit Übersetzungen: die ›GTA‹-Teile sind weltweit gefragt, werden aber nicht synchronisiert. Übersetzungen finden sich nur in den Untertiteln.

Ab ›GTA III‹ war mit der 3D-Open World ein nachhaltiges Merkmal gesetzt. Die Spielwelten wurden dabei immer vielschichtiger. Die schiere Größe der frei begehbaren Welt blieb von da an ein Markenzeichen der ›GTA‹-Reihe, ebenso wie die in ihr enthaltenen individuellen Freiheiten. Grenzen setzen territorial gesehen nur das Meer, welches die Städte umgibt. Grundsätzlich entsprechen (bis auf ›GTA London 1969‹ und ›GTA London 1961‹ mit London) die jeweiligen Städte realen Städten, sind ihnen in Klima, Charakter, Erscheinungsbild, gesellschaftlicher Atmosphäre und vielen Weiterem nachempfunden: Liberty City stellt New York City dar, Vice City ist Miami nachempfunden, Los Santos entspricht Los Angeles, San Fierro besitzt San Francisco zum Vorbild, Las Venturas hat zur Vorlage Las Vegas.

Ein Fernseher vor einem Gebäude. Das Fernsehbild zeigt eine Computerspiel-Darstellung dieses Gebäudes.Einige Städte tauchen dabei mehrfach in der Spielreihe auf. So besitzen beispielsweise ›GTA SA‹ ebensowie ›GTA V‹ Los Santos als einen ihrer Handlungsorte. ›GTA V‹ baute die Stadt aber räumlich noch weiter aus und führte sie in Details noch mehr an das Original von Los Angeles heran. Wer etwa das berühmte Griffith-Observatorium aus Los Angeles in ›GTA SA‹ besucht, kann die Ähnlichkeit deutlich erkennen. Wer es jedoch in ›GTA V‹ aufsucht, stößt auf noch realistischere Größenverhältnisse und mehr Details.

Auch untereinander sind die Spiele über die Städte hinaus durch ihr gemeinsames Universum verbunden. Los Santos mag im 2013 veröffentlichten und 2013 spielenden ›GTA V‹ gegenüber dem 2004 veröffentlichten und 1992 spielenden ›GTA SA‹ etwas verändert aussehen. Aber die Verbindungen sind eindeutig. Einer der Protagonisten aus ›GTA V‹ ist etwa Mitglied der gleichen Gang wie der Hauptcharakter aus ›GTA SA‹. Solche Überschneidungen sind quer über alle Spiele und Städte vorhanden und verbinden sie auf der Metaebene mehr oder weniger lose miteinander. Beispielsweise leidet der Protagonist aus dem 2005 veröffentlichten und 2001 spielenden ›GTA LCS‹ unter dem höchst paranoiden Verhalten des wichtigsten Nebencharakters, welcher nur deshalb wahnhaft wurde, weil er sich im 2004 veröffentlichten und in 1992 spielenden ›GTA SA‹ auf den Protagonisten verließ, der ihn um mehrere Millionen Dollar betrog.

Wer nur einen oder wenige Teile isoliert spielt, sieht nur die in sich geschlossene Handlung der einzelnen Spiele. Die Gesamtwelt erschließt sich erst bei einer umfassenden Betrachtung. Viele Charakterzüge, Ereignisse und Personenkonstellationen sind nicht aus sich heraus erklärbar, sondern nur infolge eines Blickes in andere Teile. Gerade dies geht in der Rezeption von ›GTA‹ häufig unter. Vermutlich liegt das an der schieren Verteilung der Spiele über inzwischen fast 30 Jahre. Wer Laufe der 2010er Jahre einstieg, fing mit ›GTA V‹ an, erlebte die Anpassungen und Weiterentwicklungen von ›GTA O‹, und wird erst in 2025 einen regulären neuen Teil erfahren. Wer hingegen in den 1990ern oder den 2000er Jahren einstieg, erlebte die Weiterentwicklungen auf technischer Seite genauso mit, wie große Teile des sich ergebenden Gesamtbildes. Die zeitlichen Verschränkungen der Veröffentlichungen und Erzählungen machen dieses Bild gar noch schwieriger, detailreicher und in seiner Tragweite umfassender.

Inhalte

Rein inhaltlich gesehen verläuft das Geschehen stets in den gleichen Bahnen: der Protagonist besitzt meist eine kleinkriminelle Vergangenheit und empfindet sein Ziel in einer kommerziell möglichst erfolgreichen Verbrecherkarriere in einer US-amerikanischen Großstadt. Nach und nach arbeitet sich die Hauptperson vor.

Damit enden die großen Übereinstimmungen jedoch auch schon. Wer ›GTA‹ für einfältig oder einseitig hält, wie es in vielen Kritiken immer mal wieder vorgebracht wurde, hat sich einfach nicht mit den Spielen befasst. Dies fängt bereits mit den Motivationen der Protagonisten an. Vic Vance (›GTA VCS‹) sieht sich 1984 von anderen Personen zur Kriminalität gezwungen. Eigentlich Soldat bei der Armee, nötigt ihn sein Vorgesetzter so lange zu kleinkriminellen Aufträgen, bis Vic erwischt und unehrenhaft entlassen wird. Nun versucht er seine in der Dominikanischen Republik zurückgebliebene Familie als einziger Ernährer anderweitig über Wasser zu halten: »Einer ist ziemlich krank. Asthma. Und ich muss alles zahlen. Der andere ist auch krank, aber sein Fall liegt anders. Meine Mom ist übel drauf.« Dabei kommen ihm immer wieder Skrupel, und eigentlich sucht er den ständigen Ausstieg. Völlig anders ist das Interesse 2013 hingegen bei Trevor Philips (›GTA V‹). Er foltert, mordet und raubt nicht nur für Geld, sondern einfach aus Freude daran. Der finanzielle Anreiz ist für ihn ein Ansporn, aber kein Auslöser: »Ich bin nicht rational. Es ist mir egal, ob du nützlich bist oder nicht. Ich habe Lust, dich auszuschalten, […] und das tue ich auch.«

Höchst unterschiedlich sind daher auch die Handlungsstränge der einzelnen Spiele. Tommy Vercetti (›GTA VC‹) wird von seinem italienischen Mafiaboss 1986 aus Liberty City nach Vice City geschickt, um die Familie dorthin expandieren zu lassen. Tommy baut die Mafiastrukturen wie geplant auf, wird dann von seinem Boss betrogen, tötet diesen jedoch und steht bald unangefochten an der Spitze der organisierten Kriminalität in der Stadt. Völlig anders jedoch ist der Verlauf 2013 bei Michael De Santa (›GTA V‹). Eigentlich als professioneller Dieb bereits im »Ruhestand«, ist er mit seinem Leben höchst unglücklich, wird dann unfreiwillig in die Welt der Raubzüge zurückgezogen, und verlässt sie wieder glücklich.

Einseitigkeit kann der ›GTA‹-Reihe auch nicht in der Charakterzeichnung vorgeworfen werden. Vielmehr nahm die personelle Tiefe der Protagonisten mit der Zeit gar noch weiter zu. Geschickt schafft es hierbei der einzelne Handlungsstrang, auf der einen Seite Identifikationspotenzial mit den individuellen Schicksalen herzustellen, und auf der anderen Seite heute als angemessen erachteten Verhaltensweisen fundamental zu widersprechen. So werden immer wieder Konflikte geschaffen, welche die Spielenden auf sich selbst zurückwerfen.

Vic Vance (›GTA VCS‹) ist 1984 beispielsweise eigentlich das, was die meisten wohl als innerlichen guten Menschen bezeichnen würden. Er nimmt selbstlos alles auf sich, um kranke Familienmitglieder finanziell am Leben zu halten. Das Happy End wird ihm aber immer wieder verwehrt. Als sich eine Liebesbeziehung mit einer jungen alleinerziehenden Mutter entwickelt, werden diese Lichtblicke völlig zunichtegemacht. Aus Rache an Vic wird sie von einem verfeindeten Kartell gefoltert und ermordet. Als Vic mit seinem Bruder Kokain in Millionenwerten erbeutet und sich damit eine finanziell abgesicherte Zukunft erhofft, werden auch diese Hoffnungen zerstört. Die Drogen werden gestohlen, während er zugleich für die vorherige Erbeutung finanziell zur Kasse gebeten wird. Am Ende gelingt es Vic mit allen Feinden abzurechnen, mit seinem Bruder und einem Koffer voll Drogen die Stadt zu verlassen und vorerst unterzutauchen. In ›GTA VC‹ ist er zwei Jahre später 1986 in der ersten Mission als Nebencharakter zu sehen. Bei der Übergabe des Drogenkoffers an Tommy Vercetti wird Vic erschossen. Die Tragik rund um Vic soll die Spielenden emotional ansprechen, während seine kriminelle Seite heutigen Konventionen widerspricht.

Ähnlich widerstreitende Emotionen soll Johnny Klebitz (›GTA IV: TLAD‹) bei den Spielenden auslösen. Er will 2008 keinen Krieg zwischen den Gangs in Liberty City, er versucht gar den Drogenkonsum innerhalb seiner Gang einzuschränken und das Leben für seine Anhänger finanziell auskömmlich zu gestalten. Dafür ist er bereit zu jeder Art illegalen Geschäfts: »Wir haben deinen Entzug bezahlt, deine Anwaltsrechnungen, deine Miete, einfach alles. Scheiße, wir haben das für dich geregelt. Wir kriegen das hin, Mann, aber man muss jetzt clever sein.« Es bringt ihm am Ende nicht viel, wird die Gang doch zerstört und muss er sich schließlich nach Los Santos begeben. Dort taucht er fünf Jahre später 2013 in ›GTA V‹ als Nebencharakter auf und wird von Trevor Philips in einem Wutanfall auf offener Straße zu Tode geprügelt: »Mit wem zum Teufel sprichst du? Mit wem?« Johnnys Kampf gegen Windmühlen scheitert tragisch, sein eigenes mitunter uneindeutiges Verhalten soll die Spielenden dabei über Verantwortung für das eigene Dasein nachdenken lassen.

Auf der anderen Seite sind gleichfalls Protagonisten vorhanden, deren Charakterzeichnung die Emotionen der Spielenden in eine klar definierte Richtung zu lenken versuchen. Toni Cipriani (›GTA LCS‹) beispielsweise ist eine ziemlich klare Projektionsfläche für die klassische Mafiageschichte aus Film und Fernsehen. Der Nachfahre italienischer Einwanderer wird in der eigenen Mafia zu wenig für seine Arbeit gewürdigt, doch schlussendlich führt er sie zur Dominanz über alle anderen Vereinigungen in der Stadt. Dabei macht er sich als rechte Hand seines Paten unentbehrlich. Macht und Ruhm stehen im Mittelpunkt, wirklich zufrieden wird der ständig mies gelaunte Toni jedoch erst, als seine Mutter ob seiner Beförderung zum Capo stolz auf ihn ist.

Eine ähnlich eindeutige Richtung wird bei Luis Lopez (›GTA TBoGT‹) verfolgt. Luis ist die rechte Hand eines Nachtklubbesitzers und versucht, die Geschäfte trotz aller unfreiwilligen illegalen Verwicklungen aufrechtzuerhalten. Er will raus aus der Kriminalität und legal sein Geld verdienen. Am Ende beerbt der einstige Kleinkriminelle seinen Senior-Partner und führt die edelsten Clubs der Stadt inklusive der Perspektive einer weltweiten Ausdehnung durch Franchises: troz aller Hindernisse macht er es sinnbildlich vom Tellerwäscher zum Millionär.

Was gerade die moralischen Zwickmühlen betrifft ähneln sich alle ›GTA‹-Titel, weisen jedoch unterschiedliche Intensitäten auf. Die individuellen Storylines zwingen die Spielenden etwa immer wieder zu aufwühlenden Aktionen. Vic Vance (›GTA VCS‹) will zum Beispiel nach seiner Beauftragung zur Schutzgelderpressung nur so viel Einrichtung eines Lebensmittelgeschäfts zerschlagen, wie unbedingt nötig ist. Sein Auftraggeber ist da weniger zimperlich: »›Das ist nicht okay, Marty.‹– Sei ein Mann, wenn du Geld willst. Oder bist du etwa ein Weichei?‹« Niko Bellic (›GTA IV‹) wird gezwungen, entweder für viel Geld mit seinem Erzfeind zusammenzuarbeiten, der seinen Bruder entführte, dessen Wohnung und Taxiunternehmen abbrannte, und Niko mehrfach zu töten versuchte, oder aber weiterhin mit kleineren Jobs voranzukommen: »Ich habe eine Entscheidung zu fällen und weiß nicht, mit wem ich darüber reden könnte …« Die Entscheidung der Spielenden zwischen den beiden Optionen hat einen zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Einfluss auf den späteren Handlungsverlauf: Entweder wird Nikos Bruder bei dessen Hochzeit erschossen und Nikos Freundin trennt sich von ihm, oder aber Nikos Freundin wird bei der Hochzeit erschossen. Die Handlungsspielräume unterscheiden sich in solchen aufwühlenden Aspekten teilweise stark. Mal ist gänzlich keiner vorhanden: Niko muss eine der beiden Optionen nehmen. Mal ist der Handlungsspielraum eng gefasst: Vic muss ein Mindestmaß an Einrichtung zerschlagen, aber nicht alles. Die Bandbreite der Handlungsspielräume ist dabei sehr weit gefasst.

Die ›GTA‹-Teile lassen die Spielenden innerhalb des Verlaufs der Handlung weitgehend freie Hand in Umsetzungen und Konnotationen. Selbst in der Open World und jenseits der Missionen gilt dies uneingeschränkt. Wer mit einem teuer erstandenen Luxuswagen gemütlich zur Countrymusik durch die Wüste fahren will, kann dies machen. Wer mit einem gestohlenen Panzer in der Innenstadt die anrückende Polizei überrollen will, kann dies machen. Es sind gerade diese Freiheiten, welche ›GTA‹ für die Spielenden zum breit rezipierten Erlebnis macht. Nichts muss, aber fast alles kann. Dazu zählt auch die Ungebundenheit in der Art und Weise, wie die Spielenden ihre Zeit jenseits der Missionen verbringen. Je nach Titel variieren die Möglichkeiten und werden ergänzt oder ausgetauscht. Doch stets herrscht ein großes Spektrum vor: TV-Shows, Bars, Tanzlokale, Billard, Tuningwerkstätten, Dates, Schießstände, Flugschulen, Autorennen und vieles mehr. Selbst die Nebenmissionen sind breit angelegt. Klassisch ist die Arbeit als Taxi- oder auch Krankenwagenfahrer.

Ebenso breit wie die Palette an Aktivitäten fällt die Diversität der zu spielenden Personen aus. Vic Vance (›GTA VCS‹) ist dominikanischer, Niko Bellic (›GTA IV‹) serbischer und Huang Lee (›GTA CW‹) chinesischer Einwanderer, ersterer legal, die beiden letzteren illegal. Toni Cipriani (›GTA LCS‹) und Tommy Vercetti (›GTA VC‹) haben italienische, Luis Lopez (›GTA TBoGT‹) dominikanische, Trevor Philips (›GTA V‹) kanadische Wurzeln. Vic Vance (›GTA VCS‹), Carl Johnson (›GTA SA‹) und Franklin Clinton (›GTA V‹) sind schwarz, Johnny Klebitz (›GTA IV: TLAD‹) ist jüdisch, Trevor Philips (›GTA V‹) bisexuell, Niko Bellic (›GTA IV‹) antikapitalistisch bis kommunistisch. Während der jeweiligen Handlung ist Carl Johnson (›GTA SA‹) mit 24 Jahren der jüngste, Michael De Santa (›GTA V‹) mit doppelt so vielen 48 Jahren der älteste Protagonist. In ›GTA VI‹ wird ausweislich des Trailers mit Lucia erstmals seit den wechselnden Hauptpersonen aus dem ersten ›GTA‹-Teil eine Frau in einer der zwei Hauptrollen gesteuert.

Die vielen Hauptpersonen der Spiele stehen für sich und weisen jeweils eigene Handlungen auf, selbst bei ›GTA V‹ mit seinen drei gleichzeitigen Protagonisten. Bei ›GTA V‹ sind die drei Personen miteinander verwoben und ergeben so neben ihren individuellen auch eine übergeordnete Geschichte. Die anderen Protagonisten der Reihe sind nur sehr lose miteinander verbunden, mal mehr, mal weniger. Insgesamt aber ist bei vergleichender Gesamtbetrachtung wie schon erwähnt eine Metaebene und ein gemeinsames Universum erkennbar, zumindest ab ›GTA III‹.

Dies macht die psychisch-emotionalen Auswirkungen auf die Spielenden noch gravierender, zumal die Geschehnisse der einzelnen Titel nicht in der Chronologie der Veröffentlichungen ablaufen. Werden die einzelnen Spiele in der Chronologie der Inhalte angeordnet, würde sie beginnen mit ›GTA V‹S in 1984 und stünde aktuell bei ›GTA V‹ im Jahre 2013. Noch komplexer erscheint dieses Universum, wenn auf Interaktionen, Rückkopplungen und Titel-übergreifendes Auftreten geblickt wird. ›GTA VC‹ mit dem Protagonisten Tommy Vercetti spielt 1986 und erschien 2002. In der ersten Mission stirbt der bis dahin unbekannte Vic Vance. Doch ›GTA VCS‹ mit dem Protagonisten Vic Vance spielt 1984 und erschien 2006. Ein wie auch immer geartetes Happy End war damit vom Spielanfang an ausgeschlossen, die Perspektive des tragischen Protagonisten bereits festgelegt und deutlich vor Augen. Genau andersherum war es dann bei Johnny Klebtitz. Denn ›GTA IV: TLAD‹ erschien 2009 und spielte in 2008. Am Ende der Handlung wollte Johnny die Stadt verlassen und neu anfangen. 2013 erschien das in 2013 spielende ›GTA V‹. Aus Johnnys Happy End wurde nichts, vielmehr war er weiterhin Teil der Motorradgang, vom Drogenmissbrauch noch zerfallener und für die Spielenden völlig unvorbereitet wenige Minuten nach seinem Auftauchen tot.

Noch schwieriger ist die spieleübergreifende Konstellation bei dem Dreieck von Niko Bellic, Johnny Klebitz und Luis Lopez im Jahre 2008 in den gleichzeitig spielenden ›GTA IV‹, ›GTA VI‹: TLAD und ›GTA TBoGT‹. Alle drei jagen zeitweilig über mehrere Missionen hinweg illegal in die Stadt geschmuggelten Diamanten nach. Die Spielenden werden einerseits geschickt in die Situation versetzt, per Identifikationsmerkmalen mit dem jeweiligen Protagonisten mitzufühlen und ihm das Säckchen mit den Steinen zu gönnen. Andererseits steht nach drei mit den Diamanten befassten Spielen kein Gewinner fest: Luis kauft mit seinem Senior-Partner die Diamanten beim Schmuggler, Johnny klaut sie mit seiner Motorradgang ohne sie bei der italienischen Mafia als seinem Auftraggeber abzugeben, Niko stiehlt sie für besagte Mafia (zwei Mal) zurück, Johnny und Niko sollen sie für die Mafia dann gemeinsam verkaufen, Luis raubt sie ihnen bei der Übergabe an die Diamantenhändler, wird aber zur Nutzung der Diamanten als Lösegeld für eine von Niko mitentführte Freundin gezwungen, bei welcher Niko die Steine von der russischen Mafia gestohlen werden und dabei verloren gehen – oder wie Niko lapidar bemerkt: »Die bringen Unglück.« Was sich schon als gemeinsamer Handlungsstrang aus drei Spielen kompliziert lesen mag, ist für die Spielenden infolge der äußerst nuancierten Stilmittel zur Identifikation mit dem einzelnen »Helden« der jeweils gerade gespielten Handlung noch viel komplexer.

›GTA‹ rüttelt aber noch wesentlich tiefer am menschlichen Dasein. Gerade die sozialkritischen Untertöne prägten die Reihe nachhaltig. Dabei geht es nicht einmal primär um Fragen der Alternativen krimineller Lebenswege, sondern die übergeordnete Ebene von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft samt Interdependenzen und Rückkopplungen. Die Protagonisten überschreiten allesamt ihre eigenen früheren Grenzen, wachsen über sich hinaus und begehen Handlungen, welche sie ablehnen, um im Leben voranzukommen. Vic Vance (›GTA VCS‹) wird kriminell für seine Familie, Carl Johnson (›GTA SA‹) weil er sonst nichts kennt. Luis Lopez‘ (›GTA TBoGT‹) Mutter lebt über ihre Verhältnisse, weshalb er von ihren Kredithaien zur Manipulation von Käfigkämpfen gezwungen wird, Franklin Clinton (›GTA V‹) nutzt einfach jede Chance, um aus der Armut in den Wohlstand zu treten.

Ziel ist in jedem Spiel unausgesprochen eine soziale Absicherung, meist durch Geld oder Vermögenswerte, um somit Alternativlosigkeiten und Armut zu entkommen. Der American Dream wird dabei satirisch und parodistisch immer wieder infrage gestellt. Carl Johnson (›GTA SA‹) verfügt am Ende seiner Handlung über ein stadtübergreifendes Wirtschaftsimperium, treibt sich aber weiter im Ghetto herum, weil er es als seine Heimat versteht. Niko Bellic (›GTA IV‹) hat am Ende sämtliche Gegner beseitigt, ist aber unglücklich ob des Verlusts seiner Partnerin oder seines Bruders und fühlt sich vom Leben in den USA enttäuscht.

Abbildung des  Videospielcharakters Niko Bellic
Niko Bellic (›GTA IV‹) gilt als beliebtester Protagonist [hier zu sehen in einer Cutscene]

Die Darstellung von Korruption zielt noch viel stärker in diese Richtung. In allen Teilen spielt sie eine besondere Rolle, vor allem seitens Polizei und Geheimdiensten. Niko Bellic (›GTA IV‹) kommt hierbei den Wünschen seiner Auftraggeber des Geheimdienstes nach, weil sie ihn jederzeit abschieben oder anklagen könnten. Sein Kontaktmann ist serbischer Abstammung und meint einmal sarkastisch zu ihm, es sei doch wie in der alten Heimat. Niko antwortet trocken auf Serbisch mit einem: »Ganz genau so.« Als Trevor Philips (›GTA V‹) von seinem Kontaktmann beim Geheimdienst zur Entsorgung eines Hubschraubers herangezogen wird, antwortet der gerade von Liebeskummer gepeinigte: »Ich hab wichtigere Dinge, über die ich mir den Kopf zerbrechen muss, als diesen blöden Heli. Sachen, die echt was bedeuten. Nicht erfundene Kriege gegen erfundene Gegner. Herzensangelegenheiten.«

Dennoch wurde ›GTA‹ gelegentlich eine Übernahme von gewaltverherrlichenden, sexistischen und gar rassistischen Kategorien vorgeworfen. Dies kann sämtlich entkräftet werden. Wenn ›GTA‹ gerade auf seine Ironie, seinen Sarkasmus und besonders den Subtext hin untersucht wird, eröffnet sich ein Bild voller Sozialkritik an eben solchen Kategorien. Stilistisch geschieht dies gleichermaßen durch übertriebene Übernahme von Klischees wie infolge Durchbrechens solcher. Der Bruder von Carl Johnson (›GTA SA‹) beispielsweise ist lange Zeit strikt gegen die Beziehung ihrer Schwester mit einem lateinamerikanischen Einwanderer aus einer anderen Gang. Carl Johnson und sein späterer Schwager werden jedoch beste Freunde und überwinden den ethnisch grundierten Konflikt. Niko Bellic (›GTA IV‹) wird ständig plakativ als Osteuropäer, gelegentlich auch als Russe bezeichnet, weil die ihn umgebenden US-Amerikaner keine Unterschiede östlich der deutschen Grenze kennen und alles unter russisch subsumieren. Irgendwann gibt er das Verbessern auf. Luis Lopez (›GTA TBoGT‹) weist die schwulenfeindlichen Entgleisungen selbst seiner besten Freunde gegenüber seinem homosexuellen Senior-Partner immer wieder aufs Neue zurecht. Die Tochter von Michael De Santa (›GTA V‹) wird berühmt durch leicht bekleidete TV-Auftritte und durchgestochene Intimaufnahmen, doch ist er stolz auf seine Tochter, dass sie einen Star aus sich gemacht hat. Tommy Vercetti (›GTA VC‹) nutzt Gewalt zur wohlkalkulierten Erreichung von Zielen, nicht zur Befriedigung zerstörerischer Triebe. Claude Speed (›GTA III‹) verfügt mangels diplomatischen Geschicks, Disziplin oder auch Bildung schlicht über keine anderen Mittel als Gewalt. Selbstverständlich spielen die ›GTA‹-Teile alle mit dem Unterhaltungsfaktor grenzüberschreitenden Verhaltens, sowohl in der Handlung, als auch in der Open World. Und natürlich spielen auch voyeuristische Kategorien eine Rolle, genauso wie bei Action-, Horror- oder Pornofilmen. Der Subtext bei ›GTA‹ weist dennoch eine moralische Komponente auf.

Fazit

Insgesamt ist die ›GTA‹-Reihe viel heterogener, vielschichtiger und tiefgründiger, als es in der Rezeption häufig erscheint. Zugleich bieten sich Reihe und Einzelteile aus Sicht diverser Wissenschaftsdisziplinen als Untersuchungsobjekt an.

Die Geschichtswissenschaft könnte sich der Darstellung von Geschichtsnarrativen widmen, die Medienwissenschaft den Trendsetzungen für die Videospielwelt, die Politikwissenschaft den sozialkritischen Untertönen, die Soziologie den Interdependenzen von individuellem und Gruppenverhalten, die Sprachwissenschaftler der Verwendung von Sprachen samt Dialekten und Akzenten, die Wirtschaftswissenschaftler den Werbestrategien der Entwickler – die Liste ließe sich endlos weiterführen.

Angebracht ist eine nähere Erforschung des Phänomens ›GTA‹ ohnehin. Videospiele prägen unseren Alltag viel stärker, als es die meisten Menschen überhaupt merken. Zugleich sind sie nicht nur aus Sicht des Historikers Zeugnisse ihrer Zeit und subjektive Spiegel ihrer Kontexte, sondern gleichzeitig auch Stilmittel zu Aussagen über ihre eigene Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Anders gesprochen steht die Wissenschaft bei ›GTA‹ einem Untersuchungsobjekt erheblichen Umfangs und enormer Reichweite gegenüber. Dass eben dieses Untersuchungsobjekt als fast unerforscht gelten muss, hebt die Angelegenheit auf ein noch komplizierteres Niveau. So oder so wird es Zeit für nähere Forschungen über ›GTA‹. Dass es über die in Kürze erfolgreichste Videospielreihe kaum Studien gibt, erscheint nämlich höchst fragwürdig.

| DR. DANIEL MEIS

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Digitalspielkultur | Im Gespräch mit Christian Mahnke

Auf den GermanDevDays in Frankfurt fand RUDOLF THOMAS INDERST die Zeit, sich bei hochsommerlichen Temperaturen mit Christian Mahnke von EarReality auszutauschen. Und so konnten sie sich über die gemeinsame Schnittmenge von Hörbuch und Digitalspiel und zahlreiche weitere Themen unterhalten.

Ein MMO wird 20

Digitalspielkultur | ›World of Warcraft‹: der Kampf im Inneren

Das MMORPG ›World of Warcraft‹ feiert sein 20-jähriges Jubiläum. Pünktlich zum runden Geburtstag erschien 2024 auch die nun zehnte Erweiterung ›The War Within‹. CHRISTIAN KANDLIN erklärt, wie Entwickler Blizzard das Spiel für ein größeres Publikum zugänglich macht – und dabei mit alten Gewohnheiten bricht.

Games im Museum? 

Digitalspielkultur | Im Gespräch mit Andreas Lange und Klaus Spieler über ihr neues Buch ›Wie die Games ins Museum kamen‹

Wie wurde aus einem kritisch beäugten Zeitvertreib ein weltweit beachtetes Kulturgut? Im Interview mit den Machern des ersten Computerspielemuseums spricht RUDOLF INDERST über die Geschichte einer Kulturinstitution, die Herausforderungen der digitalen Bewahrung und ihr neues Buch darüber.