Der Philosoph Wolfram Eilenberger hat den dritten Band seiner Trilogie, die uns die Philosophie des 20 Jahrhunderts nahebringt, veröffentlicht: Nach ›Zeit der Zauberer‹ (2018) und ›Feuer der Freiheit‹ (2020) liegt nun der Band ›Geister der Gegenwart – Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung‹ vor. Das Projekt einer neuen Aufklärung verweist auf eine zentrale Feststellung Kants, dass wir in keinem »aufgeklärten Zeitalter« leben, sondern in einem »Zeitalter der Aufklärung« mit offenem Ausgang. Von DIETER KALTWASSER
In seinem neuen Buch stehen wieder vier »Leitgestalten« im Vordergrund des Geschehens, deren Leben und Werk nun in der Zeit von 1948 bis 1984 detailliert und tiefschürfend beschrieben wird: Es sind Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Susan Sontag und Paul K. Feyerabend. Für Eilenberger »verkörperten [sie] ein philosophisches Existenzideal, das ich für ebenso wichtig wie bedroht halte: Alle vier suchten einen Ausgang in neue Mündigkeit. Sie hatten den Eindruck, dass sie sowohl in ihrer privaten Existenz als auch in der Gesellschaft und ihrer akademischen Umgebung dieser Mündigkeit ermangeln. Sie wollten sie philosophierend für sich gewinnen.«
Der neue Band ist für Eilenberger ein »Zeugnis der Befreiung. Sie wurde vom Autor in langen Jahren erträumt.« Sein Philosophieverständnis widerspreche zwar den derzeit vorherrschenden Formen des akademischen Philosophierens, nicht jedoch der philosophischen Tradition. Dies erklärt für Eilenberger auch die Auswahl der Personen. Waren es in seinem ersten Band »Zeit der Zauberer«, der die Jahre zwischen 1919 und 1929 schildert, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin und Ernst Cassirer, die damals Weltbedeutung erlangten, so waren es im zweiten Band »Feuer der Freiheit« vier geniale Frauen, die in den düsteren Jahren zwischen 1933 und 1943 für unsere Freiheit einstanden: Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Simone Weil und Ayn Rand.
Alle vier Leitgestalten seines neuen Buchs »Geister der Gegenwart« standen »zu den seit dem Nachkrieg sich institutionell verfestigenden Formen und Schulen des Philosophierens in einem Verhältnis unterlaufender Gegnerschaft«. Sie selbst bildeten keine Gruppe oder gar ein System. Für Eilenberger sind sie »bespielhafte Verkörperungen eines Lebens im Sinne der Aufklärung.« Sie wird von Kant positiv bestimmt als »Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.« Das Erlangen von Geistesgegenwärtigkeit, die für die Erzählung des vorliegenden Buches »leitend war, kommt mit Kants Zielbegriff der ›Mündigkeit‹ praktisch zur Deckung.« Zu den Ironien und Verwerfungen unseres gegenwärtigen Zeitalters zähle, dass ausgerechnet die Namen Adorno, Sontag, Foucault und Feyerabend als Paradebeispiel einer Verabschiedung des Aufklärens im Sinne Kants »gerahmt, politisch verortet und auch aktivistisch verwurstet« werden, was allerdings eher darauf hindeutet, »wie hoffnungslos verwirrt eine geistige Gegenwart sich erfahren, artikulieren und ermüden kann«.
Der älteste von ihnen, Jahrgang 1903, war Theodor Wiesengrund Adorno und zusammen mit Max Horkheimer der Begründer der »Frankfurter Schule«. Für Adorno war er, so Eilenberger, »der bevorzugte Denkgenosse und Vorgesetzte«. Michel Foucault, 1926 geboren, verstand sich als Archäologe des Wissens und dachte über die Verbindung von Macht, Wahn und Wissen nach. Paul K. Feyerabend, geboren 1924 in Wien, wurde vor allem durch seine Arbeiten zur Wissenschaftsphilosophie bekannt. Feyerabend war befreundet mit Ingeborg Bachmann, ging mit einem Stipendium nach London, wo er Mitarbeiter Karl R. Poppers wurde, dessen »Kritischen Rationalismus« er anfangs vertrat. In seinem 1975 erschienenen Werk »Wider den Methodenzwang« formulierte er eine »anarchistische Erkenntnistheorie« und argumentierte gegen jede methodische Reglementierung. Mit Wittgenstein weist er auf die bedingte und stets überschreitbare Gültigkeit methodologischer Regeln hin.
Sontags Weg der Selbsterfindung ist die Metamorphose eines schlaksigen Mädchens aus dem amerikanischen Westen zur erhabenen Symbolfigur der New Yorker Literatur- und Intellektuellenszene. Als Teenager an der North Hollywood High School in Los Angeles liest sie Thomas Manns ›Zauberberg‹ und lädt sich beim berühmten Exilautor zur Teestunde ein. Das Themenspektrum, das sie in ihrem beeindruckenden literarischen und essayistischen Werk bearbeitet, reicht von postabstrakter Malerei über Pornografie und Existenzialismus bis hin zu Aids, Krebs, und Kriegsfotografie. Als der letzte große Literaturstar Amerikas war sie bei den Fotografen heiß begehrt. »Sie war Athene, nicht Aphrodite: eine Kriegerin, eine dunkle Prinzessin«, schrieb Benjamin Moser in seinem Porträt über sie.
Michel Foucault hatte von 1970 bis zu seinem Tode im Jahre 1984 am Collège de France den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme inne. Die Vorlesungen, die Foucault in den Jahren 1979 und 1980 dort hielt, haben in seinem Werk eine Scharnierfunktion. Nach der Untersuchung der politischen Wahrheitsregime, die im Zentrum der großen Vorlesungen zur »Gouvernementalität« standen, treten hier nun die »ethischen Wahrheitsregime«, die Selbsttechnologien, in den Mittelpunkt.
Es ist ein Thema, das Foucault bis zu seinem Tod beschäftigt hat. Seine letzte Vorlesung 1983/1984, in der Sokrates, die Gründergestalt der europäischen Philosophie, mit den Kynikern konfrontiert wird, den selbsternannten Underdogs des Denkens, sollte mit den von ihm noch ins Manuskript geschriebenen Worten enden: »Aber was ich zum Abschluss hervorheben möchte, ist folgendes: Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit; die Wahrheit ist nie dasselbe, Wahrheit kann es nur in Form des Jenseits und des anderen Lebens geben.«
Eilenberger erinnert sich in seinem Buch an den 10. Juni 1984, als sich Ivan Lendl und John McEnroe im Finale von Paris gegenüberstehen. Als Junge drückt Eilenberger McEnroe die Daumen, während zur selben Zeit auch Michel Foucault dieses Spiel sehen wollte. Doch der berühmte Philosoph liegt bereits todkrank in dem Pariser Hôpital de la Salpêtrière. Statt das Duell zu verfolgen, muss er eine peinigende Untersuchung über sich ergehen lassen. Ivan Lendl gewinnt das Duell gegen McEnroe.
Am 25. Juni 1984 ist der große französische Philosoph und Erforscher der Geschichte der Denksysteme gestorben. Nach Eilenbergers Zeitrechnung endet damit eine Epoche, in der es um etwas Ähnliches geht wie im Duell zwischen Lendl und McEnroe: um Kontrolle oder Genialität, um Idee oder Schema. Das Buch ›Geister der Gegenwart‹ ist das wohl persönlichste Buch von Wolfram Eilenberger. Ein Plädoyer für die Philosophie, für das autonome Denken!
Titelangaben
Wolfram Eilenberger: Geister der Gegenwart
Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung 1948–1984
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2024
496 Seiten, 28 Euro
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