Davos ist ein Schwindel

Sachbuch | Norman Ohler: Der Zauberberg, die ganze Geschichte

Norman Ohler packt aus und verspricht mit ›Der Zauberberg, die ganze Geschichte‹ die Entlarvung eines groß angelegten Mythos. Basierend auf einem Jahrhundertroman, »der ja selbst nur ein holografischer Splitter ist, trotz seines beeindruckenden Umfangs und künstlerischen Anspruchs.« Von INGEBORG JAISER

Das Buchcover ziert das Gemälde einer farbigen BerglandschaftAngesichts der ausgiebig gefeierten Kafka- und Caspar-David-Friedrich-Jubiläen 2024 könnte man die restlichen Jahrestage glatt aus dem Blick verlieren. Dabei ist vor genau 100 Jahren Thomas Manns Meisterwerk ›Der Zauberberg‹ erschienen, der Inbegriff des deutschen Bildungsromans, endlos analysiert, adaptiert, interpretiert, rezensiert und in alle erdenklichen Sprachen übersetzt. Kein geplagter Gymnasiast und erst recht kein Davos-Reisender kommt an diesem 1200-seitigen Opus Magnum vorbei.

Auch Norman Ohler nicht, als er mit Tochter und kleiner Entourage zu einem Kurztrip in die höchstgelegene Stadt der Schweiz (oder gar ganz Europas) aufbricht und sinniert, ob er diesen kostspieligen Skiurlaub als Schriftsteller nicht steuerlich absetzen könne. Vielleicht, wenn er einen Essay über Davos verfasse – denn sind nicht zahlreiche, als Bericht getarnte Werke zu Weltliteratur geworden? Doch während Thomas Mann noch drei Wochen vor Ort benötigte, um sich zu seinem ›Zauberberg‹ inspirieren zu lassen, müssen Norman Ohler drei Tage genügen. Allerdings in Zeiten des bequemen Zugriffs auf üppiges Quellenmaterial, analog wie digital.

Mekka der Schwindsüchtigen

So weit die geschickt eingefädelte Rahmenhandlung, die den Autor zu einem höchst vergnüglichen, aufschlussreichen Übersichtswerk ermächtigt. Unter der Fragestellung, wie sich ein einst abgelegenes Bergdorf erst zum Mekka der Schwindsüchtigen, dann zum populären Wintersport-Hotspot und Austragungsort etablierter Kongresse, gar des World Economic Forum entwickeln konnte – aus historischer, medizinischer, wissenschaftlicher, landeskundlicher und literarischer Sicht.

Dem populär gewordenen Genre der erzählenden Geschichtsschreibung fügt Ohler eine neue Dimension hinzu: nicht einer Epoche oder einer Persönlichkeit widmet er seine Erörterungen, sondern einem Mythos. Denn dass Katia Mann 1912 aufgrund einer angeblichen Lungenaffektion mehrere Monate in einem noblen Sanatorium in Davos zubringt und ihrem Gatten in zahlreichen Briefen den Grundstock für einen Jahrhundertroman liefert, ist eine hübsche Entstehungsgeschichte, die allerdings auf mehrfacher Täuschung beruht. Zum einen würde man Katia heute eher einen depressiven Burn-out attestieren, zum anderen basierte die fiktive Heilkraft des Höhenklimas jeglicher wissenschaftlichen Beweise und entpuppte sich reine Hypothese zur Förderung einer lukrativen Gesundheitsindustrie mit Profitmaximierung. »Davos ist ein Schwindel«, konstatierte schon Katias Mutter Hedwig Pringsheim hellsichtig.

Abschied von der Liegekur

Die Enttarnung blieb nicht aus, spätestens nach der Entdeckung des Tuberkelbazillus durch Robert Koch und des Penicillins durch Alexander Fleming. Tuberkulose konnte irgendwann geheilt werden. »Liegenkuren brauchte kein Mensch mehr […], gut zwei Dutzend Sanatorien waren flugs zu Touristenhotels mutiert, Spucknapfdepots zu Fonduestuben, aus Sterbezimmern wurden Fernsehräume.« Aber Davos weiß sich immer wieder neu zu erfinden.

Norman Ohler folgt den Wirrungen und Wendungen mit investigativem Elan, präsentiert sie dem Leser jedoch in eleganter Beiläufigkeit wie im Feuilleton. Von der Popularisierung des Skifahrens (durch den seine lungenkranke Ehefrau nach Davos begleitenden Arthur Conan Doyle) über den ersten jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus (durch den couragierten Daniel Frankfurter) bis zu den philosophischen Davoser Disputationen und der »World Economic Fiction«. Immer wieder schlägt das historische Panorama einen frappierenden Bogen zur Gegenwart, verliert jedoch durch fundierte Bibliographien und Quellenangaben sowie zeitgenössische Illustrationen und Fotografien nie die Bodenhaftung. Selbst das Titelcover nach einem expressionistischen Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner wirkt mit seinen pinken Tannen und einem orange glühenden Himmel moderner denn je.

Norman Ohler, 1970 in Zweibrücken geboren, bewegt sich als Schriftsteller gerne außerhalb fest definierter Genres. 1995 erfand er mit ›Die Quotenmaschine‹ den ersten Internetroman, sein erfolgreiches, in zahlreichen Sprachen übersetztes Sachbuch ›Der totale Rausch – Drogen im Dritten Reich‹ (2016) schaffte es gar auf die Bestsellerliste der ›New York Times‹. Sein neuestes Werk ist der ideale Begleiter für alle Zeitreisende im Geiste und Erholung-Suchende in der Post-Pandemie-Ära.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Norman Ohler: Der Zauberberg, die ganze Geschichte
Zürich: Diogenes, 2024
271 Seiten, 25,- Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zwischen lecker und spannend

Nächster Artikel

Ein Lied aus alter Zeit

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Im Kopf des Henkers

Menschen | Joel F. Harrington: Die Ehre des Scharfrichters Gleich, wie sie heißen, Scharfrichter, Henker, Folterer, in unseren Köpfen entsteht eine bestimmte Vorstellung. Eine düstere Gestalt, das Gesicht oft hinter einer schwarzen Maske versteckt, die im Namen einer unheimlichen Macht eines barbarischen Zeitalters Menschen sinnlos Schreckliches antut. Unsere Vorstellung und die Realität eines Scharfrichterlebens in der frühen Neuzeit aber unterscheiden sich deutlich voneinander. Der US-amerikanische Historiker Joel F. Harrington ist für sein Buch ›Die Ehre des Scharfrichters‹ sozusagen in den Kopf eines Henkers im späten 16. Jahrhundert geschlüpft und kann Überraschendes berichten. Von MAGALI HEISSLER

»G«-Dienst zwischen Sehnsucht und Scham

Gesellschaft | Bruno Latour: Jubilieren Jubilieren. Über religiöse Rede heißt Bruno Latours Buch über die Sprachnot angesichts des Heiligen und die Gott- bzw. »G«-Suche des modernen Menschen. JOSEF BORDAT folgt ihm beim Versuch der religiösen Orientierung inmitten von Anfechtung und Zweifel.

Kleine Prisen mit großer Geschichte

Sachbuch | Thomas Reinertsen Berg: Die Geschichte der Gewürze

Wir haben sie alle im Schrank, auf dem Regal, in Dosen oder Streuern: Gewürze, das ist Alltag in der Küche. Aber, wetten: bei ihrem nächsten Gericht, das sie mit Gewürzen schmackhaft machen, werden sie nach der Lektüre dieses Buches ihre Zutaten mit anderen Augen sehen. Von BARBARA WEGMANN

Verpuffter Aktivismus

Gesellschaft | Jan Philipp Albrecht: Finger weg von unseren Daten Der grüne EU-Parlamentarier Jan Philip Albrecht hat ein Plädoyer für mehr Datentransparenz geschrieben. Herausgekommen ist ein Buch, das an den parlamentarischen Strukturen scheitert. Von JAN FISCHER

Ambitioniertes Programm

Gesellschaft | Martha Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz Burkaverbot in Frankreich, Minarettverbot in der Schweiz, Kopftuchverbote bei uns, hitzige Debatten um Moscheebauten, Beschneidung oder rituelles Schlachten – die europäischen Gesellschaften scheinen Amok zu laufen. Muslimische Minderheiten sollen mit ihren Symbolen anscheinend für die katastrophal verfahrene westliche Nahostpolitik büßen. Wie man mit dem auch in den USA wachsenden Muslimhass umgehen könnte, will Martha Nussbaum in ›Die neue religiöse Intoleranz‹ zeigen. Von PETER BLASTENBREI