Sie sind wieder da

Roman | Max Annas: Tanz im Dunkel

Max Annas‘ neuer, sein elfter Roman spielt in seiner Geburtsstadt Köln. Angeregt wurde das, was er über eine kleine Gruppe Jugendlicher und einen das Recht in die eigenen Hände nehmenden Mann, der zum Mörder wird, weil man es im offiziellen Nachkriegsdeutschland mit der Bestrafung der Täter aus den Nazijahren nicht so ernst nimmt, von einer alten Erzählung seiner Mutter. Darin war die Rede davon gewesen, dass ein am Heiligabend 1959 an der Mauer einer Kölner Synagoge aufgetauchtes Hakenkreuz die erste Schmiererei dieser Art seit dem Kriegsende gewesen sei. Lange musste Annas sicher nicht recherchieren, um diese Geschichte als Legende zu entlarven. Nun hat er sie eingebaut in einen Thriller, in dem es um die Nichtbewältigung der deutschen Vergangenheit, neonazistische Umtriebe und latenten Antisemitismus geht und der damit durchaus auch eine Menge mit unserer Gegenwart zu tun hat. Von DIETMAR JACOBSEN

Köln, im Herbst 1959. Der Krieg liegt fast anderthalb Jahrzehnte zurück. Aber längst nicht alle Wunden, die er der Domstadt geschlagen hat, sind schon verheilt. Zwischen verschont gebliebenen Häusern stehen herrenlose Kriegsruinen. Zerschossene Dächer behält man beim Darunterentlangeilen besser im Blick, um von urplötzlich herabstürzenden Schuttteilen nicht erschlagen zu werden. Eigentlich will niemand mehr etwas von jenen zwölf Jahren wissen, aus denen Hitler und seine Anhänger nur zu gern ein Tausendjähriges Reich gemacht hätten. Gleich am Anfang des Romans heißt es dazu mit böser Ironie: »Niemand hatte eine Ahnung. Und natürlich nie eine gehabt.« Aber das Vergangene ist auch hier, um es mit Christa Wolf auszudrücken, die sich ihrerseits an William Faulkner anlehnte, »nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.«

Rock’n’Roll und unbewältigte Vergangenheit

Für die siebzehnjährige Gymnasiastin Gisela und ihre ein bzw. zwei Jahre älteren Freunde Hagen und Adi ist es hauptsächlich die aus der englischsprachigen Welt nach Deutschland herüberschwappende Musik, die ihr Leben grundiert. Rock’n’Roll heißt das Zauberwort der Stunde. Gemeinsam sitzt man vor Adis Plattenspieler und lauscht Elvis Presley, Little Richard, Bill Haley oder Brook Benton. Mit deren hiesigem Pendant Peter Kraus hat man weniger am Hut. Allein als ein Arbeitskollege von Adi nach einer Demonstration gegen die deutsche Wiederbewaffnung heimtückisch überfahren wird, nimmt sich das Trio vor, Licht in das Dunkel dieser brutalen Mordtat zu bringen und den oder die Täter an die Polizei auszuliefern.

Allein die drei Teenager sind nicht die einzigen, die hinter dem Besitzer jenes schwarzen BMW her sind, mit dem der junge Arbeiter überfahren wurde. Denn da ist noch ein Mann mit einem ganz besonderen Auftrag auf Kölns Straßen unterwegs. Er nennt sich Reinhard Clausen und trägt eine Liste bei sich, die er nach und nach abarbeitet. Dass er immer wieder da auftaucht, wo sich auch Gisela, Hagen und Adi gerade aufhalten, liegt daran, dass er sich just für jene Leute interessiert, denen die drei Freunde auf die Spur gekommen sind. Schnell haben die herausgefunden, dass der aufgrund seiner geschwungenen Linienführung »Barockengel« genannte BMW dem begüterten Fuhrunternehmer Salz gehört. Gefahren in der Nacht des Mordes hat ihn freilich dessen Sohn. Doch der interessiert nur die Jugendlichen, die, als sie ihn eine Nacht lang verfolgen, feststellen müssen, dass er zusammen mit Gleichgesinnten Hakenkreuze an Häusermauern malt. Salz Senior aber steht auf Reinhard Clausens Liste an prominenter Stelle. Denn er war es, der »den ersten Stein« geworfen hatte in jener Novembernacht 1938, eine Tat, die auch zwanzig Jahre später noch ungesühnt ist.

Die Racheliste

Tanz im Dunkel verfolgt die Taten eines Rächers, der nicht länger darauf warten will, dass sich der deutsche Nachkriegsstaat der Verbrechen jener sich längst wieder in Amt und Würden befindenden Menschen annimmt, die sie einst, gedeckt durch die faschistische Staatsdoktrin, an ihren jüdischen Mitbürgern und -bürgerinnen begingen. Nach und nach bringt er sie alle um, an die er und sein Bruder sich noch erinnern können, wenn sie schweren Herzens an jene Nacht zurückdenken, in der das Leben und das Eigentum der in Deutschland lebenden Juden in den Händen eines tollwütigen, randalierenden Mobs lag. Aus kleinen, missgünstigen, auf ihre Nachbarn neidischen und vor Gewalt nicht zurückschreckenden Biedermännern und -frauen sind inzwischen honorige, wohlhabende Bürger geworden, erfolgreiche Unternehmer wie Salz, Ärzte, Ladeninhaber, Richter, ja sogar ein Priester hat damals nicht gegen das Unrecht aufbegehrt, sondern mitgetan. Sie alle stehen nun auf Clausens Todesliste. Weil sie Strafe verdient haben, der Staat, in dem sie inzwischen leben, aber die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit scheut.

Von Rache und einer unbewältigten, mörderischen Vergangenheit handelte bereits der letzte Roman des mehrfachen Trägers des Deutschen Krimipreises Max Annas (Jahrgang 1963). Was eine Gruppe von vier jungen Idealisten sich in Berlin, Siegesallee (2024) ausdachte, um diejenigen – bis hinauf zum deutschen Kaiser – zu bestrafen, die mitbeteiligt waren an den deutschen Verbrechen in den afrikanischen Kolonien, übernimmt in Tanz im Dunkel nun ein Einzelner: für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen, wo der Staat sich dieser Aufgabe entzieht. Was passiert, wenn man die Vergangenheit glaubt ruhen lassen zu müssen, erleben im aktuellen Roman drei Jugendliche, die bei ihren Nachforschungen nicht nur auf alte und neue Nazis stoßen, sondern auch auf Polizisten, denen das Auftauchen von Nazisymbolen an öffentlichen Orten gleichgültig zu sein scheint. Und die am Ende gar unter Gefahr für ihr Leben mithelfen, eine Verschwörung jener Kräfte, die längst wieder angefangen haben, sich im Schatten des Wirtschaftswunders zu organisieren, und erneut von einem Staatswesen träumen, wie es in Deutschland vor einem historisch kurzen Zeitraum erst katastrophal gescheitert ist.

Finale furioso

Annas‘ Roman endet mit dem bleihaltigsten Finale, das dieser Autor seinen Leserinnen und Lesern je geboten hat. Rund um ein altes Gutshaus an der Kölner Peripherie fliegen an Heiligabend die Kugeln. Und alle sind sie dabei bei diesem stunden- und minutenweise heraberzählten Showdown: Neonazis und Reinhard Clausen, der Rächer, die drei Teenager, zwei Polizisten und eine brutale Gangsterclique, Schuldige und Unschuldige. Nicht jeder, der bei diesem fulminanten Tanz im Dunkel eine Waffe zieht, verlässt den Schauplatz lebend. Manche, wie der junge Hagen, haben gerade noch einmal Glück. Und Glück hat auch der Mann, der das Recht in seine eigenen Hände genommen hat. Denn er kann am Ende des Abends gleich zwei Namen von seiner Liste streichen. Bleibt nur noch einer übrig. Und Max Annas gönnt es ihm, seine Mission zu Ende zu bringen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Max Annas: Tanz im Dunkel
Berlin: Suhrkamp 2025
238 Seiten. 17 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Max Annas in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ungeahnte Möglichkeiten

Nächster Artikel

Zu den Wurzeln

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Der rettende Schuss

Roman | Javier Cercas : Outlaws Spätestens mit seinem Roman Anatomie eines Augenblicks, den die wichtigste spanische Tageszeitung El Pais 2009 zum Buch des Jahres kürte, hat der 52-jährige Javier Cercas auch außerhalb Spaniens den Durchbruch geschafft. Als »grandios« hatte der bekannte argentinische Autor Albert Manguel diesen, auch mit dem  Premio Nacional de Narrativa ausgezeichneten Roman gerühmt, der um den gescheiterten Militärputsch des Jahres 1981 kreist. Jetzt ist sein neuer Roman Outlaws erschienen. Von PETER MOHR

Brunetti – ein interessanter Mann

Menschen | Zum 80. Geburtstag von Donna Leon am 28. September

Es gibt literarische Figuren, die bekannter sind als ihre Schöpfer. Das gilt für Georges Simenons Kommissar Maigret, für Agatha Christies Miss Marple und ganz sicher auch für Donna Leons Romanprotagonisten Guido Brunetti. Im Frühjahr ist der 31. Roman mit dem eigenbrötlerischen Kriminalkommissar aus Venedig seit 1992 erschienen, und viele von ihnen standen (auch dank der Verfilmungen) lange auf den Bestsellerlisten. Pünktlich zum Geburtstag hat der Diogenes Verlag den Band ›Ein Leben in Geschichten‹ vorgelegt. Von PETER MOHR

Stadt der verlorenen Dinge

Roman | Antoine Laurain: Das Bild aus meinem Traum Worin liegt der Reiz eines Silberbechers im Louis-quinze-Stil oder einer weinroten Gallé-Vase? Können Gegenstände eine eigene Seele haben? Oder tragen sie gar die Erinnerungen ihrer früheren Besitzer in sich? Und wie fühlt man sich, wenn ›Das Bild aus meinem Traum‹ plötzlich real wird? Antoine Laurain wagt ein betörendes Vexierspiel um wechselnde Identitäten und doppelbödige Illusionen. Von INGEBORG JAISER

Idylle negativ

Roman | Juli Zeh: Unterleuten Sie hätte schon immer einen großen Gesellschaftsroman schreiben wollen, hat Juli Zeh jüngst verlauten lassen. Mit ›Unterleuten‹ hat sie sich diesen Wunsch jetzt erfüllt. Obwohl das Buch in der brandenburgischen Provinz spielt, da, wo sich Fuchs und Hase »Gute Nacht« sagen. Seine Helden sind deshalb auch nicht die Entscheider unser aller Zukunft, sondern die kleinen Leute, die mit dem andernorts Entschiedenen zu leben haben. Von denen aber fährt Zehs Roman eine ganze Palette an unterschiedlichen Charakteren auf – nicht immer vollständig klischeefrei, aber durchaus tauglich, die Widersprüche unserer Zeit und Gesellschaft sichtbar zu machen. Von

Suche nach Heimat in der Fremde

Roman | Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum

Die Autofiktion, diese kaum klar zu definierende Mischung aus Autobiografie und Fiktion, hat in dieser Buchsaison Hochkonjunktur bei Autoren und Autorinnen unterschiedlichen Alters und Provenienz. Julia Franck (51) hat sich mit ihrer beschwerlichen Jugend auseinander gesetzt, Hanns-Josef Ortheil (70) beschrieb, wie er sich nach einer schweren Herzoperation wieder zurück ins Leben gekämpft hat, und Emine Sevgi Özdamar legt mit ihrem ebenso opulenten wie ausschweifenden Band ihr gesamtes Leben und ihr künstlerisches Schaffen im Spagat zwischen zwei Kulturen offen. Von PETER MOHR