Kulturen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturen

Schwierig, das zu erklären, sagte Ramses und warf einen zweifelnden Blick auf das Gohliser Schlößchen, Gebäude dieser Art waren ihm fremd.

Farb lächelte. Unsere Kulturen, sagte er, seien nun einmal von Grund auf verschieden.

Niemand werde behaupten, sagte Wette, daß die Moderne von Religion geprägt sei, ganz im Gegenteil, sagte er, das Maschinenwesen herrsche in den Köpfen der Menschen und bestimme ihr Leben.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Wette griff zu einem Marmorkeks, seine Lieblingskekse, die es wochenlang nicht gegeben hatte, er vermißte auch die Vanillekipferl, von denen es hieß, sie seien aufgrund der gestiegenen Preise für Vanille gar nicht mehr auf dem Markt verfügbar, sie würden nicht mehr hergestellt.

Wachstum und Fortschritt seien das Fundament der Moderne, sagte Farb, alle paar Jahre ereigne sich eine technologische Revolution, seit neuestem kommuniziere man digital, das smartphone habe sich etabliert, die Produkte würden international über hochempfindliche Lieferketten verteilt, die Geschwindigkeit des Lebens nehme überall zu, und daß Zeit Geld sei, hieß es noch vor kurzem, doch jetzt verschwende niemand mehr einen Gedanken daran, auch das Denken scheine Zeit zu kosten.

Tilman rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Ramses gefiel das aparte Teeservice mit den zierlichen Drachen, rostrot, Tilman hatte es aus Beijing mitgebracht, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, ich komme darauf zurück.

Nein, sagte er, die Epoche sei ihm nicht geläufig, er habe während seines Aufenthalts spontane Eindrücke gesammelt, er habe den Rausch an der Oberfläche wahrgenommen, den rastlosen Alltag, so verzerrt, so entsetzlich schrill, so ohrenbetäubend laut, nein, wer könne sich damit anfreunden, den zahllosen Aktivitäten zum Trotz sei das Leben der Menschen vereinzelt, man sei schutzlos, alleingelassen, man finde nirgendwo Halt.

Von Grund auf verschiedene Kulturen, wiederholte Wette.

Er sehe eine Welt, sagte Ramses, aus der sich die Götter zurückgezogen  hätten, die ihren Zusammenhang und damit ihren Glanz und ihre sinnstiftende innere Ordnung aufgegeben habe, der Kosmos sei nicht länger Gegenstand von Anbetung und Bewunderung, die Früchte der Erde würden verderben, der Boden sei nicht mehr fruchtbar, selbst die Luft sei dunkel, verschmutzt.

Schwierig, sagte Farb und aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

Eine grundlegend andere Kultur, sagte Wette.

Das Göttliche, sagte Ramses, wohne nicht in den spektakulären Ausnahmen, nicht in einem Regenbogen, nicht in Sonnen- und Mondfinsternissen, nicht in den Erdbeben, sondern in den alltäglichen, den unscheinbaren Abläufen, und die Natur sei nicht etwas, das Götter geschaffen hätten, sie seien nicht jenseits der Natur, sondern seien selbst die natürlichen Elemente und Phänomene und würden nicht nur der Natur innewohnen, sondern ebenso den Kulthandlungen und Riten.

Wette stöhnte. Wer solle das verstehen, sagte er.

Eine grundlegend andere Kultur, sagte Farb.

Wie könne man das nicht verstehen, fragte sich Ramses.

Das antike Ägypten habe dreieinhalb Jahrtausende lang bestanden, sagte Farb, das sei beispiellos.

Der Mensch jener Zeit, ergänzte Tilman, habe den Planeten nicht ausgebeutet, nicht geplündert, die jährliche Überschwemmung des Nil habe den Jahresverlauf gegliedert, er habe die Früchte, Geschenke der Götter, geerntet und die geheiligten Rhythmen gepflegt, darin habe er seine Aufgabe gesehen: die Abläufe zu pflegen, sie störungsfrei zu halten, die gerechte Ordnung zu sichern.

Die Geschichte, sofern es denn so etwas wie Geschichte gebe, sagte Ramses, seine Kultur kenne keine Historiographie, befinde sich in einer regressiven Bewegung, unaufhaltsam, daran sei nichts zu ändern, auch wenn hier allerorten wortreich eine Evolution beschworen werde, und er sei froh, nicht in dieser sogenannten Moderne leben zu müssen, allein der Epochenbegriff zeuge von zutiefst verlogener Heuchelei, ein abscheulicher Euphemismus, flott mal eben vom Marketing designt, nein, nie und nimmer, er möchte zu derart heruntergekommenen Zeiten nicht leben.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

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Meine Güte, Farb stöhnte, wie solle man das beschreiben.

Man möchte es nicht glauben, sagte Annika.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne.

Da komme einiges zusammen, konstatierte Wette

Farb strich die Sahne auf seinem Kuchen langsam und sorgfältig glatt.

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Alles, was recht sei, sagte Farb, aber das halte er doch für weit hergeholt.

Er verstehe nicht genug, um sich ein Urteil zu bilden, sagte Wette, doch ja, er habe Gemälde gesehen, etwa auf einer Ausstellung in Zürich, Museum Riedberg, eindrucksvoll, sicher, aber er sei da auch lieber vorsichtig, nein, er wolle sich nicht aus dem Fenster lehnen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Farb strich sie langsam und sorgfältig glatt.

Unvergleichlich, heiße es, und daß man gar von einer der wenigen bedeutenden Hinterlassenschaften menschlicher Kultur rede, sagte Farb, das scheine ihm doch alles etwas voreilig.

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Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

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Wir speichern sie ab, sagte Farb, und tun das vornehmlich unter Ausrufen des Entsetzens.

Wette lachte. Wir sind erschrocken, fürchterlich erschrocken, zu Tode erschrocken.