/

Klimawandel

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Klimawandel

Sie zählten die Tage nicht, nein, über Zeit verfügten sie im Übermaß, sie hatten alle Zeit der Welt, sie ging ihnen nicht aus, welchen Grund hätten sie also, Tage zu zählen, nichts und niemand saß ihnen im Nacken, Wal war in der Ojo de Liebre reichlich unterwegs, die Saison hielt an bis in den Sommer, vor allem die Jüngsten genossen die Fangpause, war es nun der fünfte Tag oder der sechste, wer zählte denn Tage, die Pause kam ihnen längst wie eine Ewigkeit vor. Der Ausguck schlug Salto, Thimbleman ging schwimmen.

Für Scammon mochte sich das eher anders darstellen, er war nicht nur Commandeur, sondern Miteigentümer von Brigg und Schoner, nach ihm streckte gierig die Moderne ihre reißenden Krallen, er dachte zwar in Begriffen von Ökonomie und Effizienz, jedoch schien sich wenig zu kümmern, er saß in seiner Kajüte über Aufzeichnungen, die er in der Stadt zu publizieren gedachte, und ließ sich selten an Deck blicken.

Es gab ernste Anzeichen, daß die Stimmung kippte, Vorsicht war geboten. Als ein Menetekel ließ sich bereits das Mißgeschick des Bootswächters deuten, ich erzählte davon, eine außerordentliche Nachlässigkeit, nach wie vor blieb sie allen ein Rätsel. Der Bootswächter war davongelaufen und wurde vermißt.

Mancher hielt die Strafe für einen Fehler, und Eldin machte sich darüber hinaus unbeliebt, weil die Pause vor allem aufgrund seiner Schulterverletzung in Kraft blieb. Als Erster Offizier hätte er die Mannschaft in den Walfang führen sollen, doch die schmerzende Schulter ließ das nicht zu. Gramner wußte. wie dünnhäutig er war und daß er selbst am meisten litt, oh, die Lage war überaus kompliziert.

Es gab Beschäftigung, gewiß, Instandhaltung eben. Die Takelage war auszubessern, Segel waren zu flicken, Schaluppen und Beiboot waren seetüchtig zu halten, einige nutzten die Gelegenheit und kümmerten sich um Nahrung, sie gingen auf Fischfang.

Eins wie das andere war ein Notbehelf. Niemand klagte, doch die Anspannung wuchs, sie lag in der Luft, man wähnte sich schnell provoziert, ein unbeherrschter Tonfall, ein Mißverständnis, eine aggressive Geste, eine allzu heftige Reaktion, ein lauter Widerspruch, der eine schnappte eine lose dahingeflüsterte Bemerkung auf, der andere einen hämischen Blick, ein verstohlenes Lächeln, das vielleicht ihm selbst galt, einen abfälligen Spruch, der aus dem dämmernden Dunkel heraus getan war.

Gramner sah den dünnen Firnis zivilisierten Verhaltens, das Einvernehmen brüchig werden – Mißtrauen und Argwohn schlichen sich ein, der Geist der Mannschaft war verwandelt. Waren es die alltäglichen Arbeitsabläufe, die den Männern fehlten?

Allein die Jugend blieb unbekümmert, der Ausguck schlug weiterhin Salto, und Thimbleman ging schwimmen.

Doch es wurde gestichelt. Ob die ›Marin‹ nicht zu kalfatern wäre, fragte Crockeye gehässig, und ob die zwei Grünschnäbel helfen könnten, sie gingen doch nur ihren Vergnügungen nach und seien sonst zu nichts nutze.

Im Meer schwimmen, sagte der Rotschopf verächtlich, wo sind wir denn, und warf einen herausfordernden Blick auf Eldin, der mittschiffs an der Reling lehnte und sich unbeteiligt zeigte.

Gramner verfolgte das Geschehen mit Argusaugen, er nahm die Spannung wahr, wollte den Anfängen wehren und hielt nicht zurück mit seiner Meinung; bei einigen war er bereits als eine Kassandra verrufen, und dieselben, obgleich sie ihm gern zuhörten, wenn er erzählte, verbreiteten hinter seinem Rücken abträgliche Witze über ihn.

Wie kann es sein, daß der Mensch sich so verhält, fragte sich Gramner, was spielte sich ab, dieser rohe, verletzende Umgang, wo hatte er seinen Ursprung, nährte er sich aus einer tief empfundenen Ohnmacht, war es aufkeimender Neid, erste Reflexe von Haß?

Dann kehrten die Jungen vom Strand zurück, dem Ausguck wurde ein Bein gestellt, er stürzte unglücklich, sein Knie blutete, und als er weinend aufstand, sah er dem lauthals lachenden Crockeye in die Augen.

Willst du’s mir heimzahlen?, höhnte Crockeye.

Eldin blickte auf.

Das Klima wandelte sich.

| WOLF SENFF
| Titelbild: Abraham Storck creator QS:P170,Q330635, Walvisvangst bij de kust van Spitsbergen – Dutch whalers near Spitsbergen (Abraham Storck, 1690)

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wo Licht ist…

Nächster Artikel

Von der Trauer und der Liebe

Weitere Artikel der Kategorie »Prosa«

Storys, die Narben hinterlassen

Kurzprosa | Laura Hird: Nägel-Stories

Das ist schon heftige Kost, die einem da präsentiert wird: eine ungewöhnliche Autorin mit ungewöhnlichen Erzählungen. Laura Hird, Jahrgang 1966, geboren in Edinburgh, ist nach eigenem Bekunden nur dreimal so richtig von Zuhause weg gewesen. Dafür, das belegen die Geschichten, hat sie eine überwältigende Phantasie. Von BARBARA WEGMANN

Not

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Not

Was sie nicht länger verbergen können, Anne, ist ihre Ratlosigkeit, denn wer mit offenen Augen durch den Tag gehe, könne das Menetekel nicht übersehen.

Manche Worte haben sich aus der Alltagswelt verabschiedet, die Sprache schaltet auf Schwundstufe.

Tilman rückte ein Stück näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Dämonische Kräfte?

Mehr, weit mehr, Anne, ihr Tun hat radikal destruktive Konsequenzen, schon dem äußeren Anschein nach wendet der Planet sich gegen den Menschen, du siehst es überall, sei es in den lodernden Flächenbränden oder den lebensfeindlichen Veränderungen des Klimas, der Planet entzieht uns das Aufenthaltsrecht, Mutter Gaia hatte Geduld gehabt und einen langen Atem, nun war es genug, ein Tropfen bringt das Faß zum Überlaufen.

Die kunstseidene Kosmetikerin

Kurzprosa | Katja Kullmann: Fortschreitende Herzschmerzen bei milden 18 Grad Systemkritik aus dem Schönheitssalon – in ihrer Erzählung ›Fortschreitende Herzschmerzen bei milden 18 Grad‹ zeigt Katja Kullmann soziale Schichten ohne Schminke. Von KERSTIN MEIER

Ultimativ

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ultimativ

Auch dieser Konflikt hat seine Regeln, Farb.

Tilman schenkte Tee ein und nahm einen Keks.

Einer ist der Schurke, die anderen sind gut?

Mag sein, Farb, aber das spielt keine Rolle.

Ich denke, doch, Tilman.

Berlin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Berlin

Berlin, erinnerte sich Rostock, Berlin liege gar nicht weit entfernt von seiner Heimatstadt, er habe von Bremerhaven aus den Atlantik überquert und in Nantucket ausgemustert.

So sei es vielen ergangen, sagte London, die Überfahrt war strapaziös, und an der Ostküste habe man in Nantucket gleich anheuern können, denn die Jahrzehnte des amerikanischen Walfangs brachen an.

Was es auf sich habe mit Berlin, fragte Bildoon, weshalb, die Stadt liege auf der anderen Seite des Planeten, was kümmere ihn das.

Es sei eine andere Zeit, sagte Pirelli, von Walfang sei dort keine Rede mehr.