//

Zustände

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zustände

Und, fragte Farb.

Er sei gespannt zu hören, sagte Wette, wie ein Außenstehender die Welt der Moderne wahrnehme.

Er habe sich während der vergangenen Tage umgetan, sagte Ramses, und nein, er sei erschrocken, die Zustände seien nicht erfreulich.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Annika warf einen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Wette nahm sich einen Marmorkeks.

Nicht erfreulich, wiederholte Ramses, das beginne mit dem herrschenden Personal.

In den USA und Rußland herrschten Oligarchien, sagte Wette und lachte, aber es gebe Gegenbeispiele, immerhin, die Demokratien in Europa, sagte er, sie gäben Anlaß zu hoffen, möglicherweise sei gerechtfertigt zu sagen, der Planet befinde sich im Umbruch, deswegen sei das Erscheinungsbild ambivalent, und die vor einigen Tagen so kraß niederschmetternde Einschätzung von Ramses sei nur zum Teil treffend.

Schwierig, sagte Ramses, und er habe ja wahrgenommen, daß es Kräfte gebe, die sich den Tendenzen hin zu einer unverblümt autokratischen Herrschaft widersetzten, durchaus machtvoll werde gegenwärtig in Israel demonstriert, auch in der Türkei, und der Widerstand in den USA lege an Stärke zu, nein, es sei keineswegs seine Absicht, die Verhältnisse schlechtzureden, vielleicht sei sogar spannend, abzuwarten, nach welcher Seite sich die Waagschale neigen werde.

Zwiespältig, sagte Farb, er nehme zwar die regressiven Tendenzen nicht wahr, von denen Ramses kürzlich sprach, aber die politische Lage sei dennoch so bedenklich, daß man verzweifeln möchte, und ein Ausweg sei nicht in Sicht, schon gar nicht eine Lösung.

Sein Eindruck sei, sagte Ramses, daß es der Moderne an Tiefe fehle, darin liege ein schwerwiegender Mangel, überall herrsche eine überbordende  Geschwätzigkeit, Spaß und Vergnügung seien erstickend, das Leben erscheine sinnentleert, entwurzelt.

Die Gegenwart sei eine Zeit des Umbruchs, der Umwälzungen, sagte Tilman, und es mag sein, daß die Empfindung einer geistigen Leere intensiv um sich greife, aber trotzdem gebe es stets widerstreitende, gegenläufige Tendenzen.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte und dachte darüber nach, ob er dazu

nicht lieber eine Tasse Kaffee tränke, genieße man Yin Zhen nicht sowieso besser

ohne Pflaumenschnitte.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Wette griff zu einem Marmorkeks.

Zu meiner Zeit, sagte Ramses, sei das Leben zutiefst religiös verwurzelt,  die Sonne Ra als höchste Gottheit regele den Tag, und die Überzeugung gehe dahin, daß Ra die vierundzwanzig Stunden in einer Barke durchlaufe, zwölf Stunden am Himmel tagsüber, zwölf Stunden in Finsternis nachts, Stunde für Stunde, und Aufgabe des Menschen sei, diese Abläufe durch unterstützende rituelle Praxis zu pflegen, so daß die Sonne, die nächtliche Unterwelt hinter sich zurücklassend, wieder wie neugeboren jeden Tag eröffne, in der ägyptischen Antike gehe es eben darum, die Zustände zu erhalten, sie zu pflegen, wohingegen die Moderne unter der Losung von Wachstum und Fortschritt die Zustände zu einem vermeintlich Besseren voranzubringen glaube.

Auch im antiken Ägypten sei nicht alles makellos gewesen, oder, wandte Farb ein.

Und das lasse wiederum an die Gegenwart der Moderne denken, ergänzte Ramses, denn viele Grabstätten seien geplündert worden, einer seiner Nachfolger habe umfassende Maßnahmen gegen Korruption ergreifen müssen, auch hätten Priesterschaft und staatliche Instanzen bei vielen Gelegenheiten erbittert um die Macht gekämpft, und Nepotismus sei verbreitet gewesen.

Die Moderne, sagte Farb, habe jedoch noch gänzlich anders gelagerte Probleme, denn die Fundamente von Wachstum und Fortschritt und die darauf begründeten technologischen Innovationen richteten beträchtliche Schäden in der natürlichen Umwelt an, so daß man sich um den Zustand des Planeten ernsthaft sorgen müsse, das Klima verändere sich massiv, und die Existenz der menschlichen Spezies sei gefährdet.

Er habe davon gehört, ja, sagte Ramses, schwere Unwetter hätten zugenommen, die Meeresspiegel stiegen an, weitflächige Waldbrände breiteten sich aus, das werfe ein grelles Licht auf die Moderne, der Planet sei heruntergewirtschaftet, derartige Zustände seien in seinem Ägypten nicht bekannt.

Tilman rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wie komme ich aus dieser Falle nur wieder raus? 

Nächster Artikel

»Der Regen hört nicht auf«

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Aufbruch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Aufbruch

Sie reden von Aufbruch, Anne, das ist neu.

Aber spät, es geschieht alles so spät, der Planet steht in Flammen.

Immerhin, man scheint die reale Welt wahrnehmen zu wollen, in der Politik weht eine frische Brise.

Zwickmühle

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zwickmühle
Geschenkt, sagte Thimbleman, der Plan ist das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist.
Wovon redest du, fragte der Ausguck, wandte sich ab und nahm kurz Anlauf.

Lakota

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lakota

Er habe nicht verstanden, sagte Harmat, was mit den Lakota geschah, sie führten diverse Prozesse, die sich über Jahrhunderte hinzogen?

Nachdem die ersten Immigranten eingetroffen waren, sagte Gramner, nach Westen aufbrachen und das Land kolonisierten, formierte sich in Nordamerika eine räuberische Nation, die Immigranten nahmen das Land in Besitz, auf dem die ursprünglichen Einwohner, die First Nations, lebten, und ließen allein ihr eigenes Recht gelten.

Die Einwohner, fragte LaBelle, mußten sich den Gesetzen der Immigranten fügen?

Das stellt die Welt auf den Kopf, sagte Crockeye.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Der Ausguck stand auf, ging einige Schritte und löste sich in der Dunkelheit auf.

Das Gespräch stockte.

Schlagzeilen mache ich nicht

Kurzprosa | Volker Braun: Werktage. Arbeitsbuch 1990-2008 »Ich kann sagen, was ich will, Schlagzeilen mache ich nicht«, notierte Volker Braun in seinem nun erschienenen opulenten poetischen Tagebuch aus den Jahren zwischen 1990 und 2008. In diesen Werktagen offenbart sich eine bisher kaum beachtete Facette in Brauns Arbeiten: der feinsinnige Humor und seine Neigung zur subtilen Selbstironie. Zum 75. Geburtstag von Georg-Büchner-Preisträger Volker Braun am 7. Mai* – Von PETER MOHR

Karttinger 5

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 5

Der Moderator sah einige Jahre jünger aus als der Geheimrat, seine Größe, die sportliche Figur und der Haarschopf verliehen ihm einen überwältigenden Anschein von Jugend, und was er trug, war phantasievoll arrangiert, sie schienen beide etwas aus der Zeit gefallen.

An leichten Hängen wandte er sich nach seinem Geheimen Rat um, gut gelaunt, aber lachte ihn an mit drohend gebleckten Zähnen.

Verehrter Herr Geheimrat!, rief er ihm aufmunternd zu, nutzen Sie die Gangschaltung, damit Sie nicht Ihre Kräfte vergeuden!, und führte sie ihm vor, als dieser heran war.

Der Geheimrat atmete angestrengt; antwortete, wenn ihm danach war; der Moderator könne ihm gleichgültig werden, was hatte er vor.

Der alte Herr werde wohl, dachte sich der, keine weitere Stunde unterwegs sein wollen.