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Krise

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krise

Die Lage sei kompliziert, sagte Wette, die vertrauten Verhältnisse seien in Auflösung begriffen.

Annika warf einen zögerlichen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Farb lachte. Man könne ja heute nicht mehr sicher sein, ob morgen die Sonne aufgehen werde, das habe vielleicht sogar ein Moment der Befreiung.

Er sei da skeptisch, sagte Tilman.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Wette schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten wieder das Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, Tilman hatte es aus Beijing mitgebracht, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, ich komme darauf zurück.

Er möchte es anders formulieren, sagte Wette, die Dinge liefen aus dem Ruder, sagte er, und niemand wisse, wohin das führen werde.

Für sein Empfinden, sagte Tilman, kämen diese verwirrenden Verhältnisse mit einem Übermaß an Aufgeregtheit daher, die Situation heize sich auf, der Lärm nehme zu, und eine ausgewogene, nüchterne Wahrnehmung werde von Tag zu Tag schwieriger, was könne man tun.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Ramses, sein ruhiges Gemüt vor dem Hintergrund einer mehrtausendjährigen Kultur, könnte vielleicht ausgleichend einwirken, er hatte jedoch für heute abgesagt, er habe anderweitige Verpflichtungen.

Wie damit umzugehen sei, frage er sich, sagte Farb, und beinahe möchte man glauben, ein Dämon, eine Hysterie greife um sich, verzerre die Wahrnehmung und stürze alles durcheinander, dagegen sei mit rationalen Mitteln nicht anzugehen, ein hitziges Fieber, unaufhaltsam, hochgradig infektiös, und amüsierte sich sogleich über seine eigenen Worte, das könne es nicht gewesen sein.

Warum nicht, sagte Wette, die Menschen seien entwurzelt, vertrieben und flüchteten zu Millionen, es würden schreckliche Kriege geführt, Grausamkeiten, die man sich noch vor wenigen Jahren nicht habe vorstellen können, fehlgeleitete Existenzen mit vernichtenden Produkten usurpierten Machtpositionen, herrschten mithilfe hochentwickelter Technologien, robot warfare, oh Wunder der Technik, spottete er, gewachsene Infrastruktur werde planmäßig zerstört, wie solle man da Ruhe bewahren, wer denke sich so etwas aus.

Keiner komme lebend davon, sagte Farb und lachte, nein, er könne das kaum ernst nehmen, ein Trump sei die Maßeinheit für Irrsinn.

Habe es nicht in den späten sechziger Jahren die sogenannten ›Calhoun’s Käfige‹ gegeben, fragte Tilman, Tierversuche, in denen es Mäusen auf engstem Lebensraum an nichts gefehlt habe außer an Platz.

Das Universe 25-Experiment, sagte Wette.

Streß aufgrund von Überbevölkerung, spottete Farb.

Die Folgen seien katastrophal gewesen, sagte Wette: Männchen, die den Kampf um ihr Territorium verloren hätten, zögen sich zurück, andere hätten unter den pausenlosen Kämpfen gelitten und ihre Territorien aufgegeben, Familienverbände hätten sich aufgelöst, Gewalt sei zum alltäglichen Umgang geworden, männliche Mäuse griffen grundlos andere an, Weibchen seien mit den Jungtieren zurückgeblieben, seien aggressiv geworden, hätten den Nachwuchs vergessen, schützten ihre Jungen nicht mehr oder töteten sie, Jungtiere hätten ihre Mütter vor der Zeit verlassen.

Das Resultat sei ein kompletter Kollaps der sozialen Organisation gewesen, sagte Tilman, die Tiere hätten sich nicht mehr fortgepflanzt, die Parallelen zum gegenwärtigen Zustand der Moderne seien unübersehbar, da müsse niemand lange nachdenken.

Farb aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

Tilman rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Die Mäuse seien allein geblieben und einsam, die Population sei ausgestorben, sagte Annika.

Man müsse alles tun, diese Entwicklungen zu stoppen, mahnte Wette, und Grundlagen für eine Gesellschaft schaffen, die auf Solidarität, Gerechtigkeit und gegenseitigem Respekt beruhe.

Er sei da skeptisch, sagte Farb.

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Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

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