Sie verbirgt ihre Aggressivität oft, indem sie scheinbar beiläufig vor sich hin singt. Aber alle inhaftierten Frauen im Gefängnis von Arizona wissen genau: Wenn Diosmary Sandoval, die sie kurz »Dios« nennen, ihre Narcocorridos – Songs, in denen die Taten bekannter mexikanischer Drogengangster verherrlicht werden – anstimmt, liegt Gewalt in der Luft. Die kann Gründe haben, muss sie aber nicht. Und Dios gibt erst Ruhe, wenn der Schaden, den ihre unbeherrschbare Wut angerichtet hat, ihr groß genug erscheint. Dass es Menschen gibt, die ihre Neigung zur Gewalt komplett im Griff haben, will ihr hingegen nicht in den Kopf. Und deshalb ist ihr Florence Baum, die man aufgrund ihrer Haarfarbe »Florida« getauft hat, von Beginn ihrer Bekanntschaft an suspekt. Darum hängt sie sich, als die Gefängnisse während der Corona-Pandemie Gefangene vorzeitig entlassen, um die Ansteckungen unter den Inhaftierten gering zu halten, an die Tochter aus gutem Hause, bis es in Los Angeles zum blutigen Showdown kommt. Von DIETMAR JACOBSEN
Florence Baum will nur das Fluchtauto gefahren haben. Eine Beteiligung an dem Gewaltexzess, der sie ins Frauengefängnis von Arizona gebracht hat, streitet die junge Frau aus gutem Hause ab. Für »Dios« Sandoval stellt die aus den besseren Gesellschaftskreisen stammende »Florida« damit eine Provokation dar. Und sie wird schon während ihrer gemeinsamen Zeit im Gefängnis – eine Weile sogar in ein und derselben Zelle – nicht müde, Florence herauszufordern, um ihr ihre dunkle, gewalttätige Seite bewusstzumachen. Das steigert sich noch bis zur Besessenheit, als beide junge Frauen vorzeitig entlassen werden, um die hohe Ansteckungsgefahr während der Corona-Pandemie an einem Ort, wo man sich kaum aus dem Weg gehen kann, zu minimieren.
Frauenschicksale in einer von Gewalt und Angst geprägten Welt
Denn Dios ist nicht gewillt, von Florida zu lassen. Und als die Rivalin die Regeln, die ihr nach der Entlassung zunächst eine zweiwöchige Unterkunft in einem Quarantäne-Motel auferlegen, bricht und eine illegale Busreise nach Los Angeles antritt, dauert es nicht lange, bis Dios auftaucht. Florida ist auf dem Weg nach Hause. Im vornehmen Viertel Hancock Park steht die Villa, in der ihre Mutter wohnt. Und dort hofft sie, ihren alten Wagen wiederzufinden, der ihr eine größere Freiheit verspricht als es die in der Pandemie ohnehin nur eingeschränkt verfügbaren öffentlichen Verkehrsmittel tun. Vielleicht, so denkt sie, kehrt sie dann sogar zurück an den Ort, den ihr die strengen Bewährungsauflagen für die nächste Zeit vorschreiben. Denn Florida will auf keinen Fall wieder im Gefängnis landen. Und dazu kommt es letztlich auch nicht auf dieser Reise nicht nur in ihre Vergangenheit, sondern auch in jene dunklen Bereiche des Ichs, vor denen sie sich am meisten fürchtet.
Von Ivy Pochoda liegen bis dato auf Deutsch vier Romane vor. Zuletzt erschien im ars vivendi Verlag Diese Frauen. Die 1977 in Philadelphia Geborene, die heute gemeinsam mit ihrem Mann in Los Angeles lebt, begann mit dem Schreiben nach dem Ende ihrer Karriere als Squash-Spielerin. In deren Verlauf nahm sie mit der US-amerikanischen Nationalmannschaft an mehreren Weltmeisterschaften teil, gewann nationale Einzel- und Mannschaftstitel und wurde für ihre Verdienste um diesen Sport 2013 in die Harvard Hall of Fame aufgenommen. Als Schriftstellerin gilt ihr Interesse hauptsächlich den Schicksalen von Frauen in einer von Gewalt und Angst geprägten Welt. Alle ihre Protagonistinnen suchen auf je eigene Art nach Erlösung. Auch in Sing mir vom Tod ist dieses Thema von Beginn an wieder das beherrschende.
Die Spur des Blutes
Da die Reise von Florida und Dios schon bald zu einer äußerst blutigen Angelegenheit wird, bleibt es nicht aus, dass sich die Polizei für die beiden ehemaligen Gefängnisinsassinnen interessiert. Das ruft schon bald eine dritte Protagonistin auf den Plan. Detectiv Lobos verfügt ebenfalls über Erfahrungen mit Gewalt wie Dios, die diese Neigung hemmungslos auslebt, und Florida, die sie sich selbst gegenüber nicht eingestehen will. Sie arbeitet für das LAPD, war früher bei der Sitte, ist inzwischen aber ins Morddezernat gewechselt. Nach ihrer Konfrontation mit dem ersten Opfer der beiden Frauen, einem kaltblütig getöteten Wärter aus jenem Gefängnis, in dem Florida und Dios ihre Strafen absaßen, stellt sie sich fortan nur noch eine Frage: Kann es ein, dass Frauen, was Gewalt betrifft, nicht nur Opfer, sondern auch Täter sein können? Und weil sie gerade in Scheidung liegt, ein nicht immer funktionierendes Kontaktverbot gegen ihren gewalttätigen und zum Stalking neigenden Ex-Mann erwirkt hat, betrifft sie diese Frage ganz persönlich. Denn sie hat Tötungsfantasien, wenn sie überlegt, wie sie aus ihrer verfahrenen Situation je wieder herauskommen will.
Sing mir vom Tod läuft von Beginn an auf eine Konfrontation hinaus, die nur eine der beiden im Zentrum des Romans stehenden Frauen überleben kann. Welche das letzten Endes ist, wollen wir hier nicht verraten. Nicht unerwähnt aber soll bleiben, dass die Geschichte durch die Erzählstimme der Mitgefangenen Kace begonnen und in Gang gehalten wird, welche die Leserinnen und Leser direkt anspricht, den Überblick besitzt und gelegentliche Wertungen einfließen lässt, wie es in den antiken Tragödien die Funktion des die Handlung kommentierenden Chores war.
Und so brillant wie erschütternd ist es, wie Ivy Pochoda ein nicht nur von der Pandemie verwüstetes Amerika beschreibt. In ihrem Roman sind die USA ein Land, in dem Armut und Elend auf dem Vormarsch sind von den viel zu lange vernachlässigten Rändern der Gesellschaft aus mitten hinein in ihr Zentrum. Und das einst Glanz versprühende Los Angeles erscheint ihren Heldinnen als »ein Kriegsgebiet, das nur auf den Krieg wartet«, als »kranke Stadt, die immer kränker wird«, als »eigene Pandemie innerhalb der weltweiten«.
Kann Florida wieder zu Florence werden?
Florence Baum möchte nichts lieber, als wieder sie selbst sein, die Frau, die sie einmal war, bevor sie die falschen Entscheidungen traf und dadurch zu Florida wurde. Aber sie hat in jenen Momenten ihres Lebens, in denen sie sich von der ganzen Welt im Stich gelassen fühlte, niemand gefunden, der sie richtig beraten und vor verhängnisvollen Entschlüssen bewahrt hätte. Nur eine andere Frau ist ihr begegnet, eine, die die Dunkelheit in ihrem Inneren erspürt hat und sie letzten Endes auf einen Weg ohne Wiederkehr lenkte, mitten hinein ins Herz ihrer eigenen Finsternis.
Titelangaben
Ivy Pochoda: Sing mir vom Tod
Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Berlin: Suhrkamp Verlag 2025
332 Seiten, 17 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe