Ingrid und Paul sind Geschwister, die während des Nationalsozialismus heranwachsen. Wir begleiten ihren Weg von 1933, der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler bis zum Kriegsende 1945. Beeindruckend und wichtig findet ANDREA WANNER diese Graphic Novel.
Der erste Blick auf die beiden ist der auf ein Foto. Die Geschwister sitzen eng beieinander auf einer Bank, links die ältere, Ingrid, daneben der kleine Bruder. Sie wohnen mit ihren Eltern in einem Mehrfamilienhaus in der Stadt. Noch scheint die Welt in Ordnung. Aber das Schicksal hat längst seinen Lauf genommen. Im Januar 1933 hört Ingrid zusammen mit ihrem Vater, dass Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. »Ist das gut, Papa?«, will sie wissen und der antwortet vage: »Tja, da fragste was«, und erklärt weiter, dass Hitler den Menschen Arbeit und mehr Wohlstand versprochen habe. Kurz darauf bekommt Ingrid mit, wie der Mann der Nachbarin abgeholt wird, und nimmt Magda, die kleine Tochter der Nachbarn mit in ihre Wohnung um sie abzulenken und zu trösten. Die Kleine verbringt viel Zeit mit Ingrid und Paul. Und dann erkranken beide Kinder beide Kinder an Diphterie. Paul bekommt ein Medikament verschrieben, Magda nicht. »Wir haben nicht genügend Medikamente für alle«, meint der Arzt und kurz darauf stirbt das Mädchen.
Schon in diesem ersten Kapitel wird klar, was das neue System für die Menschen bedeutet, für die Linientreuen einerseits und die, die man nicht haben will, auf der anderen Seite. Und es deutet sich an, dass die Geschwister sich für unterschiedliche Seiten entscheiden werden: Paul lässt sich von der NS-Ideologie faszinieren, will zu den Starken und Siegern zählen, dabei sein und dem Traum vom Deutschen Reich mitträumen. Ingrid distanziert sich, leidet mit den Opfern, setzt sich für Gerechtigkeit ein. Zwei Geschwister, noch sehr jung – Paul kommt 1934 in die Schule – entscheiden sich für unterschiedliche Wege.
In 13 Kapitel, eines für jedes Jahr des Dritten Reichs, erzählt Ingo Haeb vom Alltag der beiden Geschwister. Die Mutter stirbt, schnell kommt eine Stiefmutter ins Haus, die absolut linientreu und eine Anhängerin des Führers ist. Die Beziehung zwischen den Geschwistern wird immer schlechter und schließlich denunziert Paul seine Schwester, die daraufhin 18jährig im Konzentrationslager Ravensbrück landet. Mit beklemmenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen begleitet Luisa Mirdita die Entwicklungen, legt dabei ungeheuren Wert auf die Mimik der Personen, gestaltet noch kleinste Details akribisch und historisch genau. Sei es ein Plakat an der Wand im Klassenzimmer »Du bist nichts – dein Volk ist alles«, die Szene am Lagerfeuer der NS-Jugend, oder der Blick auf die Trümmer des zerbombten Köln. Es sind Szenen, die unter die Haut gehen, die spüren lassen, wie Propaganda funktioniert und wie alles endete.
Ingrid und Paul verlieren sich – das deutet schon das Cover an. Wir sehen sie im Profil, ihre Namen in unterschiedlichen Schriftarten: eine schlichte, serifenlose für Ingrid und Fraktur, die von den Nazis verwendete ‚Deutsche Schrift‘ für Paul. Es ist eine schreckliche Geschichte, so wie die des Dritten Reiches eines entsetzliche Zeit war. Aber es gibt auch Hoffnung. Das Tausendjährige Reich fand ein Ende, es gab Menschen, wo wie Paul, die noch rechtzeitig erkannten, wie menschenverachtend das System war, und die den Ausstieg fanden. Das Ende ist der Beginn von etwas Neuem, von einer Zeit, für die wir alle die Verantwortung tragen. Und der Neubeginn nach 1945 trägt für uns alle die Warnung des »Nie wieder!« in sich. Auch damit wir das nie vergessen, braucht es solche Bücher.
Titelangaben
Ingo Haeb: Ingrid und Paul
Illustriert von Luise Mirdita
Berlin: Jacoby und Stuart 2025
176 Seiten, 25 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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