Bei einem großen Onlinehändler findet sich das Buch unter den Schlagworten »Zoologie« und »Umwelt und Ökologie« und viel falscher ließe sich das »relativ kurze naturkundliche Traktat« wohl kaum einsortieren. ANDREA WANNER lacht über das Missverständnis – und über das Buch.
Eine Einleitung, sieben Kapitel und eine Schlussbemerkung: als kurz lässt sich die Abhandlung über die im Erdboden lebenden Würmer der 1993 in Norditalien geborenen Autorin und Illustratorin Noemi Vola wahrlich nicht bezeichnen. Aber in ihrem regenwurm-rosafarbenen, 264 Seiten umfassenden Werk gelingt es ihr, die unterschätzten Tiere zu würdigen und sie unter neuen, unbekannten Aspekten zu betrachten.
Nach einer kurzen Einführung in die Anatomie der Regenwürmer, ihre Farbe und Größe (die von »sehr kurz« bis »endlos lang« reicht, erfahren wir, dass es weltweit rund 700 verschiedene Arten gibt, und machen die Bekanntschaft einiger der berühmtesten von ihnen. Da gibt es einen ET-Regenwurm (mit Telefon!), eine Marge Simpson mit blauer Frisur und roter Halskette, einen Robin-Hood-Wurm mit Feder am Hut und einem Köcher voller Pfeile und eine süße Regenwurmprinzessin, die keine geringere als Schneewittchen ist, umgeben von sieben niedlichen Zwergwürmern, einen energisch dreinblickenden Napoleonwurm und, und, und. Jetzt sind wir mittendrin in einem grandiosen Abenteuer mit total unterschätzen Helden, die Wünsche und Träume haben, die den unseren gar nicht so unähnlich sind.
Auch Regenwürmer werden von Selbstzweifeln geplagt, wissen nicht immer, wer sie sind und wer sie sein wollen. Vielleicht lieber ein Schnürsenkel? Ein Ring? Oder das Gummiband einer Steinschleuder. Akribisch hält Vola diese Varianten in seitenfüllenden Skizzen fest, verwandelt das Tier in ein Lesezeichen – ausgerechnet in Werner Herzogs »Die Eroberung der Nutzlosen«, ein Lasso, eine Brille oder in eine Kerze auf einem Kuchen – was er aber ganz schnell wieder sein lässt, als er angezündet wird. Er sucht Unterkünfte und empfindet beispielsweise das Innere einer Zahnpastatube, aus der nur noch sein kleiner Kopf herausschaut, als zu beengend. Auch in einer Farbstiftschachtel, perfekt eingereiht zwischen einem zarten Babyrosa und einem hellen Pink ist es ihm zu voll, im Stall von Bethlehem ist es ihm zu kalt und sich auf einer grünen Wiese unsichtbar zu machen, für ihn, den Rosafarbenen gar nicht so einfach.
Es ist ein grandioser Spaß. Tatsächlich gibt es viele Bilder, auf denen die Regenwürmer sehr unglücklich dreinschauen – ob ihr Leben generell unglücklich liest, bezweifelt man nach dieser Lektüre. Er stellt sich philosophischen Fragen, weiß nicht genau, ob er einer ist oder zwei und wer er ist, wenn er eigentlich zwei ist und nur noch einer davon da ist. Wer kennen sie, die Frage »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?«, auf die Richard David Precht eine Antwort sucht, die auch der Regenwurm haben will.
Das Buch ist klug, witzig, überraschend. Es lässt sich vorlesen, anschauen, weiterspinnen. Es ist außerdem eine Hommage an die finnische Autorin Tove Jansson, die Mutter der Mumin-Trolle, die in »Das Sommerbuch« eine »Abhandlung für Regenwürmer, die kaputt gegangen sind« eingefügt hat. Ein Zitat daraus dem Buch vorangestellt. Und wenn Noemi Vola in ihren Vorbemerkungen einschränkt, dass »die meisten Leserinnen und Leser Bücher über Regenwürmer sterbenslangweilig finden; sie bevorzugen andere Themen, etwas Dinosaurier, Tiger, Delfine, geflügelte weiße und Pferde und Ähnliches«, dann hat sie natürlich die Reaktion am Ende ihres Buches schon vorhergesehen: Wir lieben jetzt alle Regenwürmer und können uns kaum ein spannenderes und vielseitigeres Tier vorstellen, als diesen überaus sympathischen Wurm!
Titelangaben
Noemi Vola: Über das unglückliche Leben der Regenwürmer
Ein relativ kurzes naturkundliches Traktat
(Sulla vita sortunata dei vermi. Trattato abbastanza breve di storia natural, 2021) Aus dem Italienischen von Alexandra Titze-Grabec
München: Kunstmann 2025
264 Seiten, 24 Euro
Ab 5 Jahren zum Vorlesen und für alle
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