Gebrochene Biographien, Missbrauchserlebnisse und seelische Verwundungen zeichnen alle Frauen im Sanatorium aus. Doch was den Anschein einer Heilanstalt zu wahren versucht, entpuppt sich als Brutstätte für Lügen und trügerische Behauptungen. Anna Prizkaus Debütroman spielt virtuos mit vielstimmigen Versionen von Lebensentwürfen und ihrem Scheitern. Von INGEBORG JAISER
Wer würde bei Frauen im Sanatorium nicht unweigerlich an die türenschlagende Madame Chauchat denken oder an die einfältige Frau Stöhr? Doch hat das klassische Sanatorium nicht längst ausgedient angesichts all der Reha-Kliniken, Kurhotels und Yoga-Retreats? Haben Gruppengespräche und Ergotherapie nicht die Liegekur von einst abgelöst? Die Autorin Anna Prizkau besteht zwar in der Titelgebung noch auf das altertümliche Vokabular, siedelt ihren Debütroman doch ganz im Hier und Jetzt an.
Merkwürdig fahl, blass und blutleer erscheint die heutige psychiatrische Klinik mit ihrem Personal, auch wenn schon früh alle Schattierungen von Rot heraufbeschworen werden: in der Fassade der Gebäude, in den korallenfarbenen Lippen und bordeauxgesträhnten Locken der Therapeutinnen, selbst in der Erinnerung an die pinken »Federn der Flamingos in der zu lauten Werbung von Saturn. Oder war es die Werbung von Sephora?« Aussichtslosigkeit ist eine Grundeinstellung, denn »niemand der länger als fünf Tage hier war, hoffte auf Hilfe aus der Klinik.« Und: »Wahrscheinlich war es eine Intuition, die alle Kranken hatten, der alle Kranken folgte: Es war verboten, einander nach dem Grund des Aufenthalts zu fragen.«
Haus 5, Hans-Lewitt-Klinik
Doch wem ist schon Glauben zu schenken? Was die Protagonistin Anna (aus deren Perspektive erzählt wird) lapidar als »die Sache« bezeichnet, verschleiert einen als Verkehrsunfall kaschierten Suizidversuch unter massivem Alkoholeinfluss. Mitpatientin Marija leidet unter transgenerationalen Erschütterungen. Elif hat am Tag, als ihr Brautkleid gekauft wurde, ihren Verlobten verloren – der Künstler David wiederum durch infame Intrigen seinen Galeristen, sein Einkommen, seinen Ruf. So oder so ähnlich könnte es gewesen, möglicherweise auch ganz anders.
Denn nicht nur Lügen halten die Notgemeinschaft der Patienten zusammen, auch abendliche Wodka-Wein-Gelage mit traumatisierten Soldaten und verbotener Sex im Klinikschwimmbad. Wer Missbrauchs- und Migrationserfahrungen, menschliche Verluste und seelische Ausnahmezustände überlebt hat, für den ist das tägliche Schummeln beim Messwerte-Tagebuch marginal: »Nur nie über 130 und unter 69. Und Puls immer was mit der 7 davor. Sonst halten sie dich noch für krank. Kapiert?«
Das Glück ist eine dumme Sehnsucht
Von A bis Z erlogen ist möglichweise auch der Inhalt des Notizheftes, das die entlassene Elif nebst einem (natürlich polyamidroten) Badeanzug der zurückgebliebenen Anna zum Geschenk gemacht hat. Doch lässt sich eine falsche Geschichte neu überschreiben?
Die Autorin Anna Prizkau, die wie viele ihrer Romanfiguren »in der anderen Stadt, dem anderen Land« geboren wurde, 1994 mit ihrer Familie nach Deutschland emigriert ist, hat neben ihrer journalistischen Arbeit die Sprache längst als Medium für Zwischentöne und Ungewissheiten entdeckt. Das macht auch den soghaften Reiz ihres Debütromans aus, der den Leser auf zweifelhafte Fährten schickt und sich als menschliche Parabel über die Brüchigkeit von Beziehungen und Familie erweist.
Emotionale Verwerfungen werden angerissen, doch selten aufgelöst. Lücken und Leerstellen bleiben Teil der (Lebens-)Geschichten. Verrat wird zur existentiellen Triebfeder. Selten widerfährt den Patienten ehrliche Anteilnahme. So wie in dem Moment, als eine der sonst gefühlskalten Krankenschwestern sich zu einer verbotenen Zigarette in Annas Zimmer hinreißen lässt. Ihr Resümee birgt keinen Trost: »Das Glück ist eine dumme, dumme Sehnsucht, die nur sehr selbstverliebte Menschen haben.«
Titelangaben
Anna Prizkau: Frauen im Sanatorium
Hamburg: Rowohlt 2025
304 Seiten. 24 Euro
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