1945 kehrt eine deutschjüdische Frau im Rang einer Majorin der US-amerikanischen Armee aus dem Exil nach Deutschland zurück. Jella Lepman steht vor einer gewaltigen Aufgabe – und sie hat eine Vision. Von ANDREA WANNER
Wenn man heute im Internet nach ihr sucht, findet man schnell folgende Information: »Jella Lepman war eine deutsche Journalistin, Autorin und Übersetzerin und die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek in München.« Alles richtig, aber ihre Geschichte war viel dramatischer: 1891 in Stuttgart als älteste Tochter einer jüdischen Familie geboren, erhielt sie eine sehr gute Schulbildung, studierte Musik in der Schweiz. Aber ihren Traum Konzertpianistin zu werden, verbot der Vater. Stattdessen arbeitete die 17jährige in einer Lesestube, wo sie sich mit Kindern ausländischer Arbeiter einer Zigarettenfabrik beschäftigte und ihnen vorlas.
Ihre Ehe mit dem vierzehn Jahre älteren Gustav Lepman dauerte nicht lang, er starb bereits 1922. So musste die alleinerziehende Witwe sich um zwei Kinder kümmern und Geld verdienen, was sie als erste weibliche Redakteurin beim ›Stuttgarter Neues Tagblatt‹ tat. 1936 floh die Familie nach Italien und von dort nach England. Und kaum baten die Alliierten sie 1945 um ihre Hilfe und sie folgte dem Ruf.
Sie findet ein Land in Trümmern vor, hat keine Ahnung, wo sie anfangen soll. Dass sie den Auftrag überhaupt annimmt, liegt daran, dass sie etwas für die Kinder tun möchte, die unschuldig unter diesem schrecklichen Krieg leiden mussten. Sie soll sich um die Umerziehung der deutschen Frauen und Kinder kümmern. Aber wie soll das gehen? Sie bekommt eine Erkundungsreise durch die Besatzungszone genehmigt und macht sich auf den Weg. Ihre Idee ist schnell, den Geist der Kinder mit Nahrung zu versorgen – in Form von Büchern.
Sie hat die Idee einer Ausstellung mit den besten Kinderbüchern aus der ganzen Welt. Vor den versammelten hochrangigen Offizieren argumentiert sie: »Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen. Die Kinder werden den Erwachsenen den Weg zeigen.«
So fing alles an. Katherine Paterson folgt in diesem Buch dem Weg der leidenschaftlichen Kämpferin, die weltweit Unterstützung sucht und findet für ihre Pläne. Trotz aller Skepsis und aller Widerstände setzt sie sich durch. Und keiner dankt ihr es mehr als die Kinder. Es gibt viele Informationen über Jella Lepman, ihren Weg, die Nachkriegszeit in Deutschland, den Kampf mit der Bürokratie – aber immer ist zu spüren, dass Bücher Grenzen überschreiten und Menschen verbinden können.
Den großformatigen Band hat Sally Deng bebildert. Es gibt unendlich viel zu entdecken und neben den beeindruckenden Zeichnungen, teils in Schwarz-Weiß, teils koloriert, die die Stimmung einfangen, gibt es auch Fotos aus der damaligen Zeit. Das alles ergänzt sich zu einem aussagekräftigen Dokument, das viel zu erzählen hat. Manches davon augenzwinkernd wie das Cover, auf dem ein Mädchen mit Pinocchio herumtollt, ein anderes Bambi streichelt und ein Junge mit Pu Bär an der Hand spazieren geht.
Es ist ein weiter Weg, der gegangen werden muss. Wer einmal die Gelegenheit hat, Schloss Blutenburg in München zu besuchen, sollte das unbedingt tun. Hier ist der Sitz der Internationalen Jugendbibliothek, der weltweit größten Bibliothek für internationale Kinder- und Jugendliteratur. 1949 wurde sie von Jella Lepman gegründet und seither kontinuierlich zum international anerkannten Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur ausgebaut. Das ist mehr als eine Hommage an Bücher und das Lesen, es ist die Hoffnung, dass Menschen dadurch zu besseren Menschen werden können.
Titelangaben
Katherine Paterson: Jella Lepman und ihre Bibliothek der Träume
(Jella Lepman and Her Library of Dreams. The Woman Who Rescued a Generation of Children and Founded the World’s Largest Children’s Library, 2025)
Aus dem Englischen von Alexandra Rak
Illustriert von Sally Deng
Zürich: NordSüd 2025
112 Seiten, 30 Euro
Kindersachbuch ab 10 Jahren
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