Kalender | Arche Literaturkalender 2026
»Herz und Verstand« ist das Motto des neuen Arche Literaturkalenders für das Jahr 2026. Wer kennt das nicht, wenn man zwischen diesen beiden Polen, dem Gefühl und der Vernunft, manchmal hin- und hergerissen ist? Von BETTINA GUTIÈRREZ
In dem sorgfältig von der Literaturwissenschaftlerin Angela Volknant edierten Kalender geben Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Welt ihre ganz persönliche literarische Auskunft über dieses Thema. So lässt der Ire James Joyce in dem Romandebüt Ein Porträt des Künstlers als junger Mann den Gefühlen für eine junge unbekannte Frau freien Lauf, denn »sein Herz tanzte auf ihren Bewegungen wie ein Korken auf einer Welle«. Mitsou, die Protagonistin des gleichnamigen Romans der französischen Schriftstellerin Colette, der sich im Paris des Ersten Weltkrieges abspielt, ersetzt dagegen ihren anfänglichen Enthusiasmus für einen jungen Leutnant durch überheblichen Stolz und herbes Kalkül: »Wenn es ihnen einfallen sollte, mir zu erklären: Es ist aus mit uns beiden, dann werde ich Ihnen zeigen, dass ich kein Riechsalz und keinen Essig brauche«.
In seinem wunderbaren Essay »Über die Liebe« bekennt sich der französische Literat und Essayist Stendhal nun zu einer ihm innewohnenden inneren Zerrissenheit zwischen Gefühl und Verstand, die sich darin äußere, dass er sein Herz zwinge stumm zu bleiben, wenn es auch glaube viel sagen zu müssen. Der Amerikaner Mark Twain wiederum lastet der deutschen Sprache eine gewisse emotionale Weitschweifigkeit und Kompliziertheit an, indem er für ihre sachliche Vereinfachung plädiert, auf dass sie, wenn sie zum Gebet gebraucht würde auch »oben« verstanden werde. Die jüdische Romantikerin Rahel Varnhagen spricht sich vielmehr in einem Brief aus dem Jahr 1813 an ihren Freund Clemens Brentano für eine allumfassende Sichtweise der Menschheit aus, die nicht zwischen Emotio und Ratio unterscheidet, da sie, so sagt sie, alles Menschliche liebe und beinahe alle Menschen dulde.
Rosalie, die Protagonistin der Erzählung »Sentiment« aus den »New Yorker Geschichten« der Amerikanerin Dorothy Parker ist in ihrem tiefen Liebeskummer allerdings vollkommen hoffnungslos den eigenen Empfindungen ausgesetzt: »Wenn es ein Drama ist, das Gefühl zu haben, ein dauernder – nein, ein unablässiger Regen schlägt mir aufs Herz, dann mache ich ein Drama aus mir«, gesteht sie freimütig. Zur sachlichen, ja rationalen Betrachtung von Kriminalromanen mahnt der Spanier und Krimiautor Manuel Vázquez Montalbán. Für ihn sind sie weder spannungs- noch emotionsgeladen, da sie sich lediglich darauf beschränkten, eine moralische Landschaft zu bieten, auf der sich die Figuren bewegten.
Äußerst nüchtern geht es in der Schönen neuen Welt, dem berühmten Roman des Briten Aldous Huxley zu. In diesem Zukunftsroman aus dem Jahr 1932 entwirft er eine Gesellschaft, die sich vor allem auf die exakten oder harten Wissenschaften, die Technik und das kühle Funktionieren der Menschen konzentriert – als hätte er schon damals die Zukunft vorhergesehen: »Die Menschen sind glücklich, sie haben alles, was sie wollen, und nie wollen sie, was sie nicht haben können. Es geht ihnen gut, sie leben in Sicherheit, sie sind niemals krank, sie fürchten den Tod nicht, sie wissen nichts von Leidenschaft« lautet seine Vision. Über das Wechselspiel zwischen Natur und Gemüt und auch der Seele weiß der russische Nobelpreisträger Iwan Bunin zu berichten: »Von Ende September an verödeten Gärten und Tenne. Das Wetter änderte sich in der Regel und machte mich für eine zeitlang zum Einsiedler« schreibt er in den Erzählungen »Die Antonower Äpfel«.
Treffend fasst der deutsche Lyriker Robert Gernhardt den nicht selten anzutreffenden Balanceakt der Gefühle in seinen »Gesammelten Gedichten« zusammen: »Ist das Herz auf dem Sprung, ist das Hirn auf der Hut. Springt das Herz in die Luft, greift das Hirn nach dem Schirm. Schwebt das Herz himmelwärts, spannt das Hirn seinen Schirm. Stürzt das Herz auf den Schirm, ist das Hirn obenauf.« Er mag wohl recht haben, wer könnte ihm da schon widersprechen?
Kalender
Arche Literaturkalender 2026. Herz und Verstand
Zürich: Arche Literatur Verlag 2025
62 Seiten. 24 Euro
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