Messerscharfes Vergnügen

Gesellschaft | Thomas Rothschild: Bis jetzt ist alles gut gegangen

Thomas Rothschild, in Österreich aufgewachsen, verließ das Land aus politischen Gründen und lehrte über drei Jahrzehnte Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart. In Deutschland ist er fest in der Kultur verwurzelt. Seine jetzt publizierte Aufsatzsammlung hat eine Menge Vorläufer (zuletzt: Alles Lüge. Das Ende der Glaubwürdigkeit, 2006), der vorliegende Band enthält Glossen und Aufsätze für titel-magazin.de und den Freitag – bevor der nach der Übernahme durch den nachwachsenden Augstein zum Mainstream ins Bett kroch und man sich seitdem leichten Herzens erlaubt, auf qualifizierte Journalisten wie Ingo Arend und Tom Strohschneider verzichten zu können. Von WOLF SENFF

Alles gut gegangenWir leben in Zeiten, da megalomane technologische Blockbuster ausgebremst werden, und »wer hätte sich träumen lassen, daß jene, die noch vor kurzem lieber tot als rot gewesen wären, für die Verstaatlichung von Banken plädieren würden.« (in: »Die Zwickmühle«). Was gestern als »links« verpönt war, geriert sich heute als Mainstream. Da scheut man sich zurecht, Thomas Rothschilds Texte in politische Schubladen zu sortieren.

Ein Text ruft uns Robert Jungk in Erinnerung, der vor fast einem halben Jahrhundert jene Forderungen formulierte, die unlängst ad 1: seitens der Bertelsmann Stiftung, ad 2: anläßlich der Salzburger Festspiele, ad 3: durch den Geschäftsführer des Millennium Projects, ad 4: als State of the Future Report präsentiert wurden. Paar Nummern kleiner hätten’s auch getan, und früher (Robert Jungk!) wäre ziemlich hilfreich gewesen. Doch unsere Nadelstreifen kokettieren mit dem pompösen Auftritt und sind ansonsten nicht aus der Ruhe zu bringen. »Was ist ein Optimist? Einer, der beim zehnten Stockwerk zum Fenster hinausfällt und beim ersten Stock denkt: ›Bis jetzt ist alles gutgegangen.‹«

Österreich neu entdecken

Seinen besonderen Reiz zieht dieses Lesebuch aus der Vielfalt seiner Themen, und ebenso erfreulich ist, dass einzelne Themen wieder aufgegriffen werden, sie werden gedreht und gewendet, in neue Kontexte gestellt.

Wir erfahren manches Neue über Österreich und, mal im Ernst: Wann hätten wir zuletzt über Österreich gelesen? Österreich, mit Verlaub, ist gefühlt fast so entlegen wie der Pamir und der Himalaya, es ließe sich beim multiple choice wohl oder übel als eine der Hauptinseln Japans anbieten. Lieschen Müller hat vielleicht von dem Bauunternehmer Richard Lugner gelesen und der Frage, welche mehr oder weniger honorige Dame ihn gegen Honorar auf den Wiener Opernball begleitet. Rothschild zeigt eine etwas andere Seite, die an den Gestus von Manfred Deix erinnert. Bono, Frontman von U 2, verglich einst die Texte seiner Band U 2 mit den Bildern von Deix.

Nonsense der Wissenschaft

Exponierte Themen sind außerdem Film & Schauspiel, Regietheater, Bildung, Bologna-Reform; ein Text über »Netzwerk« leitet über zu diversen Texten, in denen Rothschild unseren öffentlichen Sprachgebrauch seziert.

»Netzwerk« bezeichnet – alter Wein in neuen Schläuchen – den seit Jahrtausenden vertrauten Sachverhalt: Protektionismus, Seilschaft, Nepotismus. Das Phänomen, für jeden Quark einen Neologismus zu setzen, ist weit verbreitet. »Viele Wissenschaftler bestreiten ihre angeblich wissenschaftliche Tätigkeit mit der Neubenennung bekannter Tatsachen und geben vor, eine Einsicht zutage gefördert zu haben, wo sie lediglich Namen erfunden haben.« – damit korreliert der Nonsense, dass Ruf und Qualität eines Wissenschaftlers sich spätestens seit Bologna vorrangig daran misst, in welchem Maße er in der Lage ist, Drittmittel einzuwerben (»Der Wissenschaftler als Fundraiser«).
Waschechtes Lesebuch

Sprachlich außerordentlich präzis beobachtet wird dort, wo Thomas Rothschild »blühende Landschaften«, »rauchende Schlote« und »sexuelle Gewalt« vergleicht (in: »Beiwörter«), über den Bedeutungswandel von »Diskretion« nachdenkt oder süffige Wortpanscherei bei Angehörigen höherer Kreise zerpflückt (in: »Verfallserscheinungen«), den Unterschied zwischen »Antiislamismus« und »Islamophobie« erläutert sowie über »Denunziantentum« nachdenkt … und es gibt höchst originelle Nur-einmal-Glossen, u. a. über Charisma, Quotendummheit, den Kniefall von Warschau sowie ein sehr persönliches »Eingeständnis«.

Die Glosse hat immer den Vorteil, dass sie mit spitzer Feder zu schreiben ist und einen Sachverhalt in klare Worte fasst – messerscharf, möchte man sagen. Deshalb das Vergnügen mit diesem reichhaltigen Bändchen, einem sozusagen waschechten Lesebuch.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Thomas Rothschild: Bis jetzt ist alles gut gegangen.
Fälliger Dank und mürrische Zwischenrufe
Wien: Klever 2012
232 Seiten, 19,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Very British? No!

Nächster Artikel

Scharfe Lichter auf Novemberliches

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Eine menschliche Dimension

Gesellschaft | Jean Ziegler: Der schmale Grat der Hoffnung Armageddon kennen wir als den biblischen Ort der finalen Schlacht zwischen den Mächten des Guten und des Bösen, und Jean Ziegler sieht die Menschen in der Endphase eines globalen Klassenkampfes. Auf der einen Seite stehen die paar Oligarchen, die transnational die ökonomischen Abläufe beherrschen und steuern, auf der anderen Seite der Rest der Menschheit. Von WOLF SENFF

Sozial, aber nicht demokratisch!

Gesellschaft | Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft – Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne Man sagt, Deutschland sei im Vergleich zu anderen europäischen Ländern glimpflich aus der Finanz- und Wirtschaftskrise herausgekommen. Beim Blick auf populistische Proteste und Bewegungen wie ›Pegida‹ und ›Occupy‹ und der Gründung von Rechtsparteien wie der ›AfD‹ jedoch zeichnet sich ein demokratisch-sozialer Konflikt in der Bundesrepublik ab, der das demokratische System selbst ins Schaukeln bringen und »autoritäre Strömungen, die sich der liberalen Grundlagen unserer Gesellschaft entledigen«, erzeugen könnte. Wie konnte es soweit kommen? Von MONA KAMPE

Subversive Ideale

Gesellschaft | Susan Neiman: Warum erwachsen werden? Erwachsen werden wir alle, körperlich jedenfalls und im juristischen Sinn, sobald wir ein bestimmtes Alter erreicht haben (und nicht schwer geistig behindert sind). Und dennoch weiß jede/r, dass genug Erwachsene ihr Leben lang kindlich bleiben, sich schwertun mit Verantwortung oder allgemein damit, sich mündig und selbstbestimmt zu verhalten. Was Philosophen über das bewusste Erwachsenwerden zu sagen haben, stellt uns Susan Neiman, Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums, in ›Warum erwachsen werden?‹ vor. Von PETER BLASTENBREI

Die Verantwortung des Historikers

Gesellschaft | Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit Der Titel des Buches wird manchen Leser, manche Leserin irritieren. Kann man ein Land erfinden? Noch dazu eines, von dem doch anscheinend alle wissen, wo es liegt und wie es aussieht? Shlomo Sand, Historiker an der Universität Tel Aviv und bekannt für seine umstrittenen Themen, zeigt in Die Erfindung des Landes Israel, dass es hier einiges zurecht zu rücken gilt. Und dass dieses Land wirklich erfunden wurde – zum Schaden für alle Beteiligten. Von PETER BLASTENBREI

Die Pest der Desinformation

Gesellschaft | Stephan Ruß-Mohl: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde Der Rezensent hatte im vergangenen Jahr das Vergnügen eine Festrede zu halten. Unter den Zuhörern befand sich auch ein Redakteur der Regionalzeitung, eifrig auf seinem Notizblock schreibend. JULIAN KÖCK über eine Begegnung, die ihn nachdenklich gemacht hat. Und über eine Buch, das die Umwälzung der Medianlandschaft analysiert.