Der Horizont der Illusion

Roman | Peter Henisch: Mortimer und Miss Molly

Wie lange bleibt ein Märchen das, was es ist? Peter Henisch möchte in Mortimer & Miss Molly das Wesen der Liebe ergründen. Im sehr konstruiert wirkenden Plot landet ein amerikanischer Fallschirmspringer am Ende des Zweiten Weltkriegs ausgerechnet vor dem Fenster einer pensionierten englischen Gouvernante, die in Italien lebt. Zusätzlich wird dem Leser eine zweite Handlung um ein österreichisch – italienisches Liebespärchen aufgebürdet, das einander doch verliert. VIOLA STOCKER lässt sich auf ein modernes Märchen ein.
Henisch_Mortimer_P01def.inddMit Peter Henischs Begriff von Liebe verhält es sich wie mit dem der Religion. Es stellt sich die Frage, ob es eine Wirklichkeit des Möglichen gibt oder ob die Illusion sich doch der Realität beugen muss. Deshalb ist es nur logisch, wenn die Geschichte von Mortimer und Miss Molly plakativ im Konjunktiv beginnt. Mortimer Mellows ist 1944 ein Flugzeugpilot in seinen Zwanzigern, der über einem kleinen italienischen Ort abgeschossen wird.

Der Pilot springt, um sich zu retten, mit dem Fallschirm ab und landet just – und noch dazu unbemerkt – im Garten der alternden Gouvernante Miss Molly. Selbige versteckt ihn von nun an vor den Schergen der Nazis, die sich in Italien bereits auf dem Rückzug befinden.

Eine Liebe, die ihresgleichen sucht

Fast vierzig Jahre später landen auch Marco und Julia in eben diesem Ort, San Vito. Julia stammt aus Wien, möchte gerne in Psychologie promovieren und flieht vor dem tristen Hochschulmief in einen Italienischworkshop nach Siena. Marco studiert Augenheilkunde, sieht sich aber lieber als linksintellektueller Regisseur und besucht ein Seminar über zeitgenössischen Film in Siena. Sie begegnen einander, verlieben sich und verlassen die Seminare, um in einen filmreifen verlängerten Urlaub einzutauchen, dessen kleiner Roadtrip sie ausgerechnet nach San Vito bringt.

In dem verschlafenen Örtchen finden die beiden Frischverliebten Unterkunft in einem heruntergekommenen Hotel, dessen morbider Charme ihrer gemeinsamen Phantasie Flügel verleiht. Es ist ein Wink des Schicksals und ein geschickter Schachzug des Autors, dass Julia und Marco hier Mortimer begegnen. Der alternde Amerikaner beobachtet das Liebespaar von seinem Hotelzimmer aus, von dem aus man in einen wunderschönen Barockgarten blickt, der einst im Besitz der adligen Familie der Bianchis gewesen war.

Der Zauber der Illusion

Mortimer sucht das Gespräch mit Marco und Julia und beginnt, den beiden anlässlich eines gemeinsamen Abendessens von seiner Begegnung mit Miss Molly zu erzählen, die ihn nach seiner Landung in eben jenem Barockgarten vor den Nazis versteckte. Da der Abend bereits fortgeschritten ist, verspricht Mortimer die Fortsetzung für den nächsten Tag, doch als Julia und Marco sich nach ihm erkundigen, ist er abgereist. Dies ist nun der Augenblick, in dem sich Mortimers Geschichte verselbständigt. Von nun an hat jeder Gegenstand, jeder Fleck in und um San Vito aufgrund von Mortimers Erzählung eine geheimnisvolle Aura.

Julia und Marco geben sich ihrer Phantasie hin und beginnen, die Liebesgeschichte von Mortimer und Miss Molly weiterzuspinnen und sich in sie hinein zu versetzen. Für Marco ist sie ein perfekter Stoff für einen Film, für Julia ein romantischer Traum. Da auch italienische Sommer enden, trennen sich die beiden, treffen sich aber von nun an über Jahre in den Sommermonaten in San Vito. Der Alltag in den getrennten Leben gestaltet sich als zunehmend schwierig, doch das Spiel um Mortimer und Miss Molly schweißt beide immer wieder zusammen. Peter Henisch findet einen sehr charmanten parlierenden Ton für diese Phase des Romans, der in der feinen Ironie der Wiener Intelligenzija die bereits drohenden Wolken am Horizont karikiert.

Ein jähes Erwachen

Henischs Roman liest sich angenehm wie ein italienischer Sommerabend bis zu dem Moment, in dem Julia feststellt, dass ihr eine Sommerliebe nicht mehr reicht. Hier erst wird Henischs Größe als subtiler Erzähler erkennbar. Braucht es einen Traum, um Liebe wirklich zu machen? Als nach einem Arztbesuch der Dottore aus San Vito nur abschätzig auflacht, als Marco und Julia ihm von ihrer Theorie der außergewöhnlichen Liebe zwischen Mortimer und Miss Molly erzählen, zerplatzt die Seifenblase, die ihre eigene Beziehung über Jahre stabil gehalten hatte. Marco, nunmehr als praktizierender Augenarzt nicht mehr für die Illusion des Films zu erreichen, glaubt dem Doktor während Julia, Psychologin, noch immer nach der Wirklichkeit des Möglichen sucht.

Die Entfremdung zwischen den beiden greift rasch um sich wie ein Flächenbrand. Julia reist kurz darauf ab, um schon bald in Wien einen anderen Mann zu heiraten. Sie praktiziert als Paartherapeutin, bekommt ein Kind und lässt San Vito hinter sich. Auch Marco beginnt ein neues Leben, er reist in die USA und gründet, zurück in Italien, ebenfalls eine Familie. Ist dies nun das Ende von Henischs Märchen? Man möchte meinen, eine Paartherapeutin, deren Ausbildung nicht bei der Therapie der eigenen Beziehungsprobleme helfen konnte, hätte ihren Beruf genauso verfehlt wie ein Augenarzt, der nicht hinter die Dinge zu blicken vermag.

Und wenn sie nicht gestorben sind

Henisch aber lässt sein Märchen in alter Manier enden. Julia erhält nach dreizehn Jahren einen Anruf von Marco. Selbiger hat ausgerechnet das Haus von Miss Molly in San Vito gemietet und beim Stöbern in einer Kommode einen Brief von Mortimer gefunden, der durchblicken lässt, dass Julia mit ihrer romantischen Vermutung doch recht hatte. Entsprechend logisch ist es, dass Julia sofort nach San Vito aufbricht, Marco wiederfindet und sich das gealterte Liebespaar ausgerechnet anlässlich einer Sonnenfinsternis in die finale Liebesumarmung sinkt. Wenn das Licht der Vernunft erlischt, bleibt offensichtlich immer noch die Ahnung des Instinkts in der Dämmerung.

| VIOLA STOCKER

Titelangaben:
Peter Henisch: Mortimer & Miss Molly
Wien: Deuticke Verlag 2013
320 Seiten. 19,90 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Putzfrau und die Snobs

Nächster Artikel

straßbesetzt

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

»Death sells« – Der Tod als Marketinginstrument

Roman | Musik | Hollow Skai: Samuel Hieronymus Hellborn – Memoiren eines Rockstar-Mörders Bei David Bowie oder Lemmy Kilmister hatte er seine Finger nicht im Spiel. Das kann aber purer Zufall sein: als die starben, war er selbst schon tot. Bei praktisch allen anderen Big Names aus der Branche »populäre Musik« dagegen hat sich Samuel Hieronymus Hellborn zum Herrn über (Markt/Nach-)Leben & Tod aufgespielt. Wie und warum, das hat Hollow Skai soeben veröffentlicht: in den ›Memoiren eines Rockstar-Mörders‹, nach Diktat von Hellborn persönlich. Von PIEKE BIERMANN

Japan liegt an der Ostsee

Roman | Christoph Peters: Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln Hatte der Autor Christoph Peters die Absicht, einen Roman über eine aussterbende Berufsgattung zu schreiben? Oder gibt er der Agentur für Arbeit Tipps für Berufsinformation einmal anders? Jedenfalls wählt Peters in seinem neuen Roman ›Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln‹ – wie zuvor schon in ›Mitsukos Restaurant‹ (2009) – erneut ein kulturell etwas abseitiges Thema, den fast ein wenig marginal erscheinenden Beruf des japanischen Zen-Töpfers. Der Autor blickt dabei mit viel Humor auf diese alte fernöstliche Handwerkstradition, die sich ein deutscher Wandergeselle mit gewerkschaftlich erkämpften Rechten nicht freiwillig aussuchen würde. Was Peters uns in

Wenn der Eismann zweimal klingelt

Live | 41. Tage der deutsch-sprachigen Literatur in Klagenfurt »Germanisten-Porno« nannte es die ehemalige Preisträgerin Nora Gomringer, »Beachvolleyball-Turnier für Literatur« der Juror Klaus Kastberger: den jährlichen Wettbewerb um den begehrten Ingeborg-Bachmann-Preis, zu dem zur besten Sommerfrischezeit die Stadt Klagenfurt in diesem Jahr eingeladen hatte. Von INGEBORG JAISER

Wie Hähnchen-Amok

Roman | Dorian Steinhoff: Das Licht der Flammen auf unseren Gesichtern »Kaffirlimonenblätter, Turmericwurzeln, Galgant, Koriander, Minze, süßes Thai-Basilikum und Zitronengras.« – Dorian Steinhoffs sieben Erzählungen seines gerade erschienenen Erzählbandes stellen eine ebenso bunte Gewürzmischung vor wie die des kambodschanischen Gerichtes namens Hähnchen-Amok, das in »Wasser«, der zweiten der sieben Geschichten, in einer Kokosschale serviert wird. Von VERENA MEIS

Perfektes Paar – perfektes Glück?

Roman | Eberhard Rathgeb: Kein Paar wie wir Ein ungleiches gleiches Paar: zwei Schwestern, Ruth und Vika, ein gemeinsames Leben und eine tiefverbundene Liebe zueinander. Liebe hat viele Gesichter und ist vielmehr als die zwischen einem Liebespaar. Rathgeb erzählt von einer innigen Geschwisterliebe: Die eine ist etwas klüger, die andere etwas hübscher. Wie ein Ehepaar haben sie alles geteilt, für immer vereint, bis dass der Tod sie scheidet. In Kein Paar wie wir erzählen sie davon. Von TANJA LINDAUER