»Out of My Mind«

Jugendbuch | Sharon M. Draper: Mit Worten kann ich fliegen

Die 11-jährige Melody, die im Rollstuhl sitzt, sich nicht bewegen kann und auch nicht sprechen, hat auf die Frage, was mit ihr los sei, zwei verschiedene Antworten. Die erste lautet: »Ich habe spastische Tetraplegie, auch bekannt als Zerebralparese. Sie beeinträchtigt meinen Körper, aber nicht meinen Verstand.« Die alternative Antwort lautet: »Wir haben alle Unzulänglichkeiten. Welche sind deine?« Eine beeindruckende Geschichte über das, was Integration sein sollte. Von ANDREA WANNER

Mit Worten kann ich fliegenEs ist schwer abzuschätzen, was ein anderer Mensch denkt, weiß und versteht, wenn er nicht mit seiner Umwelt kommunizieren kann. Melody, von Geburt an schwerst körperbehindert, weiß das. Sie musste viele Situationen erleben, in denen es zu Missverständnissen kam, die sie nie ausräumen konnte, weil sie nicht sprechen kann. Für die Ärzte ist der Fall klar: Melody ist nicht nur körperbehindert, sondern auch geistig zurückgeblieben. Zum Glück für das Mädchen wollen das die Eltern nicht glauben und wehren sich vehement. Sie fördern und unterstützen ihre Tochter nach Kräften – aber auch ihnen ist Grenzen gesetzt.

Dazugehören

Der schlichte Kunstgriff der amerikanischen Autorin Sharon M. Draper besteht darin, Melody ihre Geschichte selbst erzählen zu lassen. All die vielen Momente, in denen sie sogar etwas sagen würde, ihre Gefühle ausdrücken oder ein etwas, was die anderen nicht verstehen, erklären würde, werden aus ihrer Sicht beschrieben. Beklemmend spürt man die Hilflosigkeit eines Kindes, das damit nur schwer zurechtkommt. Zu allen körperlichen Einschränkungen, dem totalen Ausgeliefertsein und Angewiesensein auf Hilfe anderer, kommt auch noch, die Verzweiflung, genau zu wissen, was zu sagen wäre, aber es nicht zu können. Kommunikation findet mit Hilfe von Melodys Daumen statt, die sie bewegen kann und mit denen sie auf Kärtchen deutet. Einfache Dinge – ja, nein, danke, Hunger oder Durst – lassen sich damit ausdrücken. Viel mehr aber nicht. Dabei ist Melody wirklich clever. Und eines Tages ist eine Lösung für viele Probleme gefunden: Sie bekommt einen Computer, der für sie reden kann. Gefüttert mit viel mehr Wörtern, Satzteilen und Sätzen, als das auf Kärtchen je möglich wäre, kann Melody in dieses Gerät alles eingeben, was sie der Welt sagen möchte. Und das ist eine Menge.

Alles wird anders

Den Wendepunkt der Geschichte ist durch einen Tempuswechsel markiert. Wird der erste Teil der Geschichte, der Sprachlosigkeit Melodys, von ihr in der Vergangenheit erzählt, so wechselt sie mit Benutzung ihres Computers in die Gegenwart und erzählt den zweiten Teil im Präsens. Sie scheint angekommen in der Welt und erobert sich einen Platz.

Ob es möglich ist, das, was Melody empfindet, wirklich in Worte zu fassen, ist eine schwierige Frage. Das Jugendbuch versucht es ohne Sentimentalität und nähert sich sicher dem Kern des Problems so weit als möglich. Das junge Mädchen, das so viele Einschränkungen erlebt, steht im Mittelpunkt der Geschichte. Alle anderen Figuren werden aus ihrer Perspektive erlebt und geschildert. Das ist entlarvend, weil es zeigt, wie schwer den meisten der Umgang mit Behinderten fällt. Und auch Kinder nehmen Gleichaltrige nicht einfach selbstverständlich mit dazu. Wenn man an nichts teilnehmen kann, ist man ein Außenseiter. Für die Schülerin scheint sich eine tolle Chance zu bieten, im Rahmen eines Wettbewerbs das Schulteam zu unterstützen und ihrer Mannschaft zu beweisen, dass sie eine von ihnen ist. Aber auch das funktioniert eher in der Theorie als in der Praxis und das Scheitern zeigt, wie wenig echte Integration noch funktioniert. Und da unterscheiden sich die USA, wo die Geschichte spielt, nicht von anderen möglichen Schauplätzen.

Sharon M. Draper schreibt einfühlsam und bewegend. Wut, Frust und Einsamkeit des Mädchens lassen sich beim Lesen erspüren, die Menschen in ihrer Umgebung werden zu Menschen, die man zu kennen glaubt und beim Lesen verteilt man schnell Sympathiepunkte – bzw. eben keine. Und wenn Melody sich am Ende in eine Zukunft träumt, die auch für sie ein Stück Normalität bereithält, bleibt einem Nichts, als ihr das von Herzen zu wünschen. Sie ist einem ans Herz gewachsen, so wie das manchmal mit Romanfiguren geschieht und ist zu einer sehr realen Person geworden, die auch jenseits der Buchseiten und über das Ende des Romans weiterlebt.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Sharon M. Draper: Mit Worten kann ich fliegen (Out of my mind, 2010)
Aus dem Amerikanischen von Silvia Schröer
Berlin: Ueberreuter 2014
320 Seiten. 14,95 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren

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