Jugendbuch | Endre Lund Eriksen: Der Sommer, in dem alle durchdrehten
Manchen Gedanken geht man am besten hinter verschlossenen Türen nach. Die sicherste Tür dafür ist wohl die der Toilette. Endre Lund Eriksen bietet seinem jungen Helden diese Sicherheit. Aber sie ist trügerisch. Wie so vieles im Leben. Von MAGALI HEIẞLER
Der Klappentext und die fetzige Covergestaltung verraten doch schon alles, mag man denken und stirnrunzelnd dazu. Ein abgelegener Ferienort in Nordnorwegen, dessen Attraktion ein Plumpsklo mit Diskokugel und zehn verschiedenen Duftsprays ist. Ein Vater, der feststellt, dass er Männer liebt und ein verwirrter Dreizehnjähriger. All die Informationen, selbst die abgebildete Forelle mit dem rosaroten Fahrradhelm, machen eine jedoch nicht im geringsten darauf gefasst, was in diesem Jugendroman alles passiert. Noch, wie verschmitzt und durchtrieben es serviert wird.
Die vermeintliche Schlichtheit, mit der noch die verrückteste Handlung vorgeführt wird, liegt am Erzähler, dem dreizehnjährigen Arvidsjaur. Trotz der Scheidung seiner Eltern und der Tatsache, dass er entschieden ein Kind des 21. Jahrhunderts ist, blickt er mit einer Unschuld auf die Menschen, die bezaubert, wie nur wahre Unschuld bezaubern kann. Arvid – wie er zu seinem vollen Namen kam, ist eine von vielen abseitigen Geschichten, die wie Schokoladestückchen im Muffin im Roman verteilt sind – gibt sich welterfahren. Schließlich weiß er alles über Pornobilder im Internet und Erwachsene und überhaupt ist man ja aufgeklärt. Er vor allem durch Freund Frank, der seine Ferien umgeben von Bikinischönheiten im Süden verbringt.
In diesem Sommer aber trifft Arvid mit der Realität zusammen. Gut, dass es das Plumpsklo gibt samt dem Gästebuch, dem er sich anvertrauen kann. Ihn versteht ja sonst niemand. Selbst Waldo, sein heißgeliebter Hund, ist in die Flegeljahre gekommen und stürzt sich auf alles, was weiblich ist. Arvid ist entsetzt.
Schräge Vögel, ganz normal
Wer immer in dieser Geschichte auftritt, verhält sich gleichermaßen seltsam wie völlig normal. Das liegt daran, dass Eriksen ein Grüppchen von Individualistinnen und Individualisten geschaffen hat, in denen man zugleich eine Menge vertrauter Züge entdecken wird. Das gilt für die Jugendlichen und für die Erwachsenen.
Dass sie exzentrisch wirken, liegt wiederum an Berichterstatter Arvid, dessen Angst vor der Welt da draußen groß ist. Er sieht nur, was er verstehen will. Er ist lieber Beobachter, am besten einer, der nicht gesehen wird. Noch besser findet er es, wenn er auch nichts sehen kann. Sein Blick ist alles andere als scharf. Das Klohäuschen ist das ideale Versteck, der sichere Rückzugsort. Wenn er nur nicht so neugierig wäre!
Die gleiche Angst lässt ihn auch keinen echten Widerstand leisten, als ihn die etwas jüngere Indiane, die Tochter von Papas »love interest« hartherzig in die Wirklichkeit zerrt. Indiane, mit zwei Vätern aufgewachsen, ist klarsichtiger als Arvid und mutiger. Zudem kann sie bereits Konsequenzen aus ihren Erfahrungen ziehen, etwas, das Arvid unmöglich vorkommt. Die Welt ist ja so verwirrend!
Die Verwirrung teilt er seinen Leserinnen und Lesern mit. So gibt es nicht weniges, das man auf Anhieb nicht oder falsch versteht, weil eben Arvid nicht versteht. Mitdenken muss man. Das Ganze ist aber so witzig erzählt, dass man zum Nachdenken verführt wird, ehe man es merkt. Der Indiane-Effekt wirkt über die Buchseiten hinaus.
Entwicklungsroman zeitgenössisch
Eriksen diskutiert vielschichtige Themen. Es geht nicht nur um den Übergang in die Pubertät, das ist ihm zu wenig. Es geht um Körperlichkeit und Körperbilder und was sich daraus an Rollenerwartungen in der modernen Gesellschaft ergibt. Eine beträchtliche Anzahl von Modellen wird vorgeführt, Vater, Mutter, Freund, Liebhaber, Abenteurer, Sportler, Handwerker, Künstlerinnen und Künstler, Koch und Schöngeist, Kleinbürger und Weltgewandte. Dabei erweist sich, dass das keineswegs feste Typen sind, sondern in jeder und jedem ein wenig von allem steckt.
Eriksen präsentiert diese Erkenntnis auf eine Weise, durch die man ordentlich Selbsterkenntnisse gewinnt, die nicht jedes Mal lustig sind. Aber es schaut ja niemand zu beim Lesen. Das ist so fast so privat wie auf dem geheimen Örtchen.
Nicht nur mit seinen Metaphern auch im Gebrauch von Vokabular und im Einsatz des Duktus’ arbeitet Eriksen ausgezeichnet. Seine Wortwahl ist ehrlich, offenherzig, gelegentlich frech, nie vulgär. Davor behütet eine schon Arvids gelegentlich etwas zu ausgeprägtes Schamgefühl, ein feiner Kniff. Alles klingt frisch, viele Vergleiche sind neu, hier ist nichts abgedroschen, anbiedernd, platt. Die Übersetzung von Maike Dörries ist so schwerelos, so echt und wahr im Klang, dass sie einer gar nicht auffällt.
Es gibt viel zu lachen. Eriksen hat einen wunderbaren Humor und den hat er auch seinem Arvid geschenkt. Dieser wird ihn auch entdecken im Lauf der Sommerwochen, eine etwas andere Erkenntnis von all dem, das die Pubertät bringen kann.
Das Buch richtet sich vor allem an junge Leser, aber auch Mädchen können ihr Vergnügen daran haben. Der Blick der Jugendlichen auf die Erwachsenen und deren seltsame Rituale spricht alle Geschlechter an. Und natürlich geht es um Liebe, Verliebtsein und um Sex. Wenn auch nicht in allen Fällen so direkt wie bei Waldo, dem ehemaligen Kuschelhund.
Dieser Roman ist nicht nur Sommerlektüre, sondern einer, der Leser wie Leserin durch so manche Jahreszeiten tragen kann. Mehrfach lesen schadet ihm nicht, im Gegenteil. Arvid ist einer, der bleibt.
Titelangaben
Endre Lund Eriksen: Der Sommer, in dem alle durchdrehten (außer mir)
(Den sommeren papa ble homo, 2012), Übersetzt von Maike Dörries
Stuttgart: Franck Kosmos 2017
220 Seiten. 12,99 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
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