/

Realityshow Russland

Gesellschaft | Peter Pomerantsev: Nichts ist wahr und alles ist möglich.

Wer als TV-Journalist von London nach Moskau kommt, den erwartet ein Medienzirkus, der wenig mit westlichen Werten wie der Pressefreiheit gemein hat. Unterhaltsam und positiv müssen die Geschichten sein, das ist die Hauptsache. Peter Pomerantsev, der Mann, den es in die Hauptstadt Russlands zog, hat neun Jahre lang nach ihnen gesucht, dabei viel gesehen und erlebt – von besonders schönen Erlebnissen berichtet er allerdings selten. Von STEFFEN FRIESE

Pomerantsev_PNichts_ist_wahr_161520Es wirkt sogar in höchstem Maße grotesk, wenn Pomerantsev von dem russischen Phänomen der Golddigger erzählt. Das sind Frauen, die es als ihren Beruf ansehen, Geschäftsmänner und Oligarchen zu umgarnen und sich ihnen als Geliebte anzudienen, um von deren Reichtum zu profitieren. In Russland gibt es eigens Akademien, in denen den zumeist jungen Frauen Tipps gegeben werden, wie sie ihr Ziel am besten erreichen. Das ist allerdings erst der Anfang von dem, was der russischstämmige Brite über Putins Reich zu erzählen weiß.

Land der Polittechnologen

Alles, was im russischen Fernsehen gesendet wird, ist inszeniert und wird von den Machthabern im Kreml gesteuert. Dabei hat sich in den letzten Jahren eine neue Art der Propaganda herausgebildet. Nach außen hin geben sich die meisten Fernsehsender modern und westlich, Engagements von ausländischen TV-Größen wie dem US-Amerikaner Larry King bei Russia Today unterstreichen dieses Bild. Doch die Nachrichtensprecher verdrehen weiterhin die Realität, bis Präsident Putin und Russland im rechten Licht stehen.

Diejenigen, die darüber entscheiden, welches Mantra dem Volk eingebläut wird und den russischen Staat steuern, sind die sogenannten Polittechnologen. Sie sind es, die die Realityshow Russland, wie sie Peter Pomerantsev beschreibt, organisieren. Jeder politische Diskurs wird von ihnen bestimmt. Inwieweit eine Opposition existieren darf, legen sie fest, mitunter bauen die Mächtigen sogar gezielt Gegenspieler auf, die sie im passenden Moment wieder fallen lassen. Nichts ist wahr und alles ist möglich – wer Pomerantsevs eindrücklich dargestellten Erlebnissen folgt, versteht den Titel seines Buchs.

Geschäfte mit der Angst

Mit einer Fülle an Schikanen wissen die Machthaber, die Bürger einzuschüchtern. Schmiergelder sind an der Tagesordnung. Ein Netzwerk aus Bestechung, Verstellung und Angst prägt die russische Gesellschaft. Die Unsicherheit, die im Volk herrscht, wissen sektenähnliche Vereinigungen auszunutzen. Pomerantsev kommt im Zuge einer Recherche über rätselhafte Suizide junger Models auf deren Spur. Die Coachs und Vorbeter treiben mit ihrer Gehirnwäsche viele der Anhänger in psychische Erkrankungen, manche in den Selbstmord.

Die beiden Kapitel, die Pomerantsev diesem Thema widmet, sind zugleich die intensivsten seines Buchs. Er beschreibt die Sitzungen in der Sekte so genau, so eindringlich, dass es einem kalt den Rücken herunterläuft. Alles in allem vermittelt er mit seinem Stil, der Elemente der Reportage mit Hintergrundinformationen verbindet, sehr eindringlich, wie sich ein Leben in der Medienmaschinerie Moskaus anfühlt.

| STEFFEN FRIESE

Peter Pomerantsev: Nichts ist wahr und alles ist möglich. Abenteuer in Putins Russland
München: DVA 2015
304 Seiten, 21,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Fluchthelfer der dritten Art

Nächster Artikel

Inspired by Imagination, driven by Fantasy: an Interview with Phildel

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Ein aufschlussreicher Blickwinkel

Gesellschaft | Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 Exakt, gelegentlich fehlen uns die Worte. Immer häufiger fehlen sie uns, die richtigen Worte. Joseph Vogl, jener Literaturwissenschaftler, der im Jahr 2010 mit seinem ›Gespenst des Kapitals‹ erfolgreich war und von dem wir annehmen, dass gerade er weder Ökonomielatein noch Politiksprech formuliert, spricht im Kontext der Finanzkrise lapidar von einem »Staatsstreich« und einem neuen »finanz-ökonomischen Regime«. Von WOLF SENFF

Geschichten vom großen und vom kleinen Wandel

Gesellschaft | World Press Photo (Hrsg.): Stories of Change Der im Westen so enthusiastisch gefeierte Arabische Frühling von 2011 ist politisch längst ad acta gelegt. Ägypten kann sich auf die nächsten 40 Jahre Militärdiktatur einrichten, Libyen versinkt im Bürgerkrieg. Nur in Tunesien scheint sich ein bescheidener Wandel vollzogen zu haben. Weiter westlich schließlich fand gar kein politischer Wechsel statt. Dass die Gesellschaften dieser Länder aber auch abseits von politischen Kämpfen nicht starr und statisch sind, zeigt der eben erschienene Band ›Stories of Change‹. Von PETER BLASTENBREI

China, China, China!

Kulturbuch | Jing Liu: Chinas Geschichte im Comic Die internationalen Beziehungen verändern sich rasant. Was gestern noch unverrückbar erschien, bricht heute zusammen, das betrifft vor allem die globalen Machtzentren: eine zerstrittene EU, eine sich zerlegende USA, ein bedrängtes Rußland und ein noch immer eher rätselhaftes, aber kontinuierlich aufstrebendes China. Von WOLF SENFF

Das Verhängnis einer Liebe

Menschen | Ingeborg Bachmann, Max Frisch: »Wir haben es nicht gut gemacht«

Von Juli 1958 bis zum Frühjahr des Jahres 1963 dauerte die Liebesbeziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch – zum Ende hin war sie vergiftet und zerbrach. Immer wieder ist über sie in der literarischen Öffentlichkeit gestritten worden mit Frisch in der Rolle des Böswichts und Bachmann in der des Opfers. Ein neues Editionswerk verlangt nach einer Korrektur der Sicht auf diese unheilvolle Beziehung der österreichischen preisgekrönten Lyrikerin und dem schweizerischen Erfolgsautor. Von DIETER KALTWASSER

Gutes Netz, böses Netz

Gesellschaft | Roman Maria Koidl: Web Attack / Michel Serres: Erfindet euch neu! Die zwei Bücher »Web Attack« und »Erfindet euch neu!« befassen sich mit der Frage, wie und was wir von uns im Netz lassen. Und zeigen dabei die ganze Bandbreite der Diskussion auf. Von JAN FISCHER