Freibeuter der Lust

Philip Roth: Das sterbende Tier

In seiner verwilderten Novelle ›Das sterbende Tier‹ erzählt Philip Roth mit Schmackes von einer nicht nur sexuellen Obsession. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Nach seiner »Amerikanischen Trilogie« wurde es Zeit für Philip Roth, sich von deren Erzähler Nathan Zuckerman zu trennen: »Allmählich fühlte ich mich eingeengt durch Zuckermans Perspektive…, der allein im ländlich isolierten Neuengland lebt und weil er glaubt, seine eigene Geschichte sei zuende, nun als Ersatz das Leben anderer Menschen miterlebt«. Der jetzt 70jährige Autor spricht von seinem Meisterwerk ›Der menschliche Makel‹, in dem der impotente(!) Zuckermann aus nächster Nähe Aufstieg und Fall des Altphilologen Coleman Silk beobachtet und wie ein Reporter nach dem gewaltsamen Tod seines von Viagra befeuerten Freundes und dessen vermeintlicher analphabetischer jüngeren Freundin Faunia ein amerikanisches Panorama der Heuchelei und Prüderie, der Political Correctness und des gesellschaftlichen Konformismus entfaltet.

Grotesker »Professor der Begierde«

Roth - Das sterbende TierVerständlich, dass der Erotiker Philip Roth für »Das sterbende Tier« einen neuen An- & Auslauf brauchte. So hat er auf eines seiner vielen Alter Egos zurückgegriffen, nämlich auf David Kepesh, den »Professor der Begierde« (1977), der sich auch schon einmal in eine überdimensionale »Brust« (1972) verwandelt hatte. Kepesh ist womöglich der groteskeste Held im literarischen Lustgarten und erotischen Zoo des amerikanischen Romanciers. In diesem schlanken Buch (nach den drei Schwergewichten der Trilogie) verfällt der erfolgreiche TV-Kulturjournalist und Literaturprofessors dem kultivierten Liebreiz einer seiner Studentinnen mit dem schönsten Busen der Welt.
David ist 62 und seine Consuela 24, als sie sich zum ersten Mal lieben. Der allseits kulturell Gebildete trifft auf die Tochter aus reichem exilkubanischem Haus, die ihn bewundert: ein spätes erotisches Glück, das sich dem schon lange Geschiedenen eröffnet, während ihm sein dreißigjähriger Sohn auf die Nerven fällt, der als dreimaliger Familienvater einer jungen Geliebten ins Netz zu gehen droht. Das kann David, dem einsamen, viel erfahrenen Nutz- & Lustgenießer der sexuellen Revolution der 60iger & 70iger Jahre, nicht passieren.
Wiewohl dieser »Professor der Begierde« den »biologischen Witz« der Paarung bis in die Abgründe des kennerischen Zynismus durchschaut – »Beim Sex ist man wieder im Urwald« –, erliegt er jedoch bei Consuela der »Pornografie der Eifersucht«.

»Pornographie der Eifersucht«

Eineinhalb Jahre dauert die Affäre und drei Jahre lang währte Davids anschließende Depression, die er mit dem Spielen aller 32 Beethoven-Sonaten zu vertreiben versuchte – da ruft ihn plötzlich zum Jahrtausendwechsel die verlorene Geliebte an und gesteht ihm, dass sie Brustkrebs hat und ihn braucht, weil von allen (jungen) Männern vor und nach ihm einzig er ihren »Körper geliebt hat und ihn noch einmal sehen soll, bevor er von den Ärzten zerstört wird«. Sie bittet ihn, sie nackt »zur Erinnerung« an ihre Schönheit zu fotografieren und die Metastasen zu ertasten, die ihr Lebenszeitgefühl beschleunigt haben. Auch sie kennt nun Davids »Wunde des Alterns« und »hat noch mehr Anlaß zur Verzweiflung als ich«.
David, der Freibeuter der sexuellen Lust, der in der ehelichen Bindung und in der »Anhänglichkeit« (sprich: Liebe) seinen »größten Feind« sah, wird ergriffen von der existentiellen Angst des »sterbenden Tiers«. Er wird ihm beistehen, wenn Consuela »das größte Ereignis ihres Lebens bewältigen muß«.

Für literarische Schulmeister ist Philip Roths ›Sterbendes Tier‹ eine erzählerisch ziemlich verwilderte Novelle (oder ein Roman in Skizzenform) – nämlich die ausschweifende Suada Davids, in der er nicht nur Anfang und Ende, Ups and Downs seiner Consuela-Obsession mit erzählerischem »Schmackes« ausbreitet, sondern zugleich diese Geschichte einer sexuellen Leidenschaft mit seinen Erfahrungen und Ansichten zu (männlichem) Sex & weiblicher Emanzipation, zu Kultur und Erotik, Alter und Jugend, Tod und Schönheit, Öffentlichkeit und Einsamkeit vielfältig trüffelt. Als gelte es, den häufig wechselnden Geschlechtsverkehr beim »wechselseitigen Gebrauch der Sexualorgane« (Kant) historisch zu begründen, platziert Roth einmal sogar einen kulturhistorischen Abriss der von den jungen Amerikanerinnen der Vorstädte und der Colleges in den 60ern eingeleiteten sexuellen Revolution in Davids Rede: Ein furioses essayistisches Manifest der körperlichen Freiheit und Selbstverantwortung, die Philip Roth (wie schon im »Menschlichen Makel«) heute von einem neuen Puritanismus bedroht fühlt. Weniger schlüssig sind dagegen Consuelas sentimentale kubanische Phantasien.

Die aus-& abschweifende Suada Davids – gelegentlich unterbrochen von Telefonaten, von denen man erst später bemerkt, dass sie Hilferufe Consueals sind – wechselt aber fast unmerklich zum Charakter einer Beichte, die sich an einen schweigenden Zuhörer richtet – einen Analytiker? -, der David zuletzt abrät, Consuela aufzusuchen: »Wenn Sie gehen, sind Sie erledigt«. Aber David wird Consuela nicht allein lassen. Denn der sich langsam enthüllende Sinn dieser Beichte eines sorglosen Libertins ist die Selbsterkenntnis, dass er das »sterbende Tier« liebt – wider alle intellektuellen Vorsätze und phallische Erfahrungen. »Einer muß wachen«, hieß es bei Kafka. Dieser eine ist für Consuela: David Kerpesch, weiland »Professor der Begierde«.

| WOLFRAM SCHÜTTE

Titelangaben 
Philip Roth: Das sterbende Tier
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Hanser Verlag 2003
168 Seiten, 16,90 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein ganz persönliches Bernhard-Requiem

Nächster Artikel

Krakaus Kroke

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Alles, was ich über Onkel Grischa weiß

Roman | Lena Gorelik: Die Listensammlerin Ein totgeschwiegener Onkel, eine sterbende Großmutter und eine schwerkranke Tochter lassen die Nerven blank liegen. Und dennoch vermag es Die Listensammlerin – und natürlich Lena Gorelik –, mit Verve und Einfallsreichtum die Bruchstücke einer ungewöhnlichen Familienchronik zu schreiben. Von INGEBORG JAISER

Allein gegen Freund und Feind

Roman | Jan Seghers: Der Solist

Mit Der Solist präsentiert der unter dem Pseudonym Jan Seghers seit 2006 Kriminalromane schreibende Frankfurter Schriftsteller, Kritiker und Essayist Matthias Altenburg seinen Lesern einen neuen Helden. Neuhaus gehört seit kurzem zur Berliner Sondereinheit Terrorabwehr (SETA), die in einer Baracke auf dem Tempelhofer Feld residiert. Man schreibt den Spätsommer des Wahljahres 2017 und die Gefährdungslage in der Hauptstadt ist hoch. Damit nicht noch einmal Pannen wie bei den NSU-Morden und dem Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember des Vorjahres passieren, ist die SETA ins Leben gerufen worden. Doch der »Solist« Neuhaus hat auch noch einen delikateren Auftrag: Er soll die eigenen Leute überwachen, denn die deutschen Sicherheitsbehörden haben offensichtlich ein Naziproblem. Von DIETMAR JACOBSEN

Aggression nach außen

Roman | Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

»Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde, ich kann nicht länger dagegen ankämpfen«, lässt Michael Kumpfmüller in seinem neuen Roman seine Hauptfigur, die weltbekannte Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) klagen. Der 58-jährige Erfolgsautor Kumpfmüller, der erst im Alter von fast vierzig Jahren mit seinem von der FAZ damals vorab gedruckten Romanerstling Hampels Fluchten debütiert und zuletzt mit Nachfolgewerken wie Die Erziehung des Mannes (2016) und Tage mit Ora (2018) respektable Erfolge gefeiert hatte, widmet sich künstlerisch nun zum zweiten Mal einer Lichtgestalt der Weltliteratur. Vor neun Jahren ließ er uns in Die Heimlichkeit des Lebens an seiner Annäherung an Franz Kafka teilhaben. Von PETER MOHR

»Obwohl wir die Reichen hassen, lieben wir die Housewives«

Roman | Stefanie Sargnagel: Iowa

Krise ist in den letzten Jahren Dauerzustand und andauernd spitzen sich gesellschaftliche Konflikte zu. Stefanie Sargnagel hat ein Buch geschrieben, dass dorthin geht, wo es am schlimmsten ist: Amerika. Dabei schildert sie alles aus der Perspektive einer deutsch-österreichischen Freundschaft – und gibt mit ihrem ehrlichen Humor ein Stück Hoffnung. Von SVEN BECK

Kammerspiel in der Schalterhalle

Roman | Marie Malcovati: Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte Am Basler Bahnhof treffen drei Menschen, drei Schicksale, drei Lebensläufe aufeinander. Stoff genug für Gedankenexperimente, Vorstellungen und Träume. Bei Marie Malcovati entstand aus dieser Idee ausnahmsweise kein Drehbuch, sondern ein beachtliches Romandebüt. ›Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte‹ lässt Leerstellen nur erahnen. Von INGEBORG JAISER