Sachbuch | Manfred Gailus / Daniel Siemens: Horst Wessel
Wer je vom Nazistaat gehört hat, kennt den Namen Horst Wessel. Den einen fällt das von ihm getextete, nach ihm benannte SA-Kampflied (Die Fahne hoch!) ein. Andere haben Bilder von notorischer Randale zwischen Rechten und Linken im Hinterkopf, die Ende der 20er Jahre auf Berliner Straßen öfter auch mal tödlich ausging. Von Goebbels zum multimedial orchestrierten Mythos verklärt, war Wessel nach 1945 Objekt kompletter Verdrängung oder neonazistischer Begierden, aber kaum der seriösen Forschung. Von PIEKE BIERMANN
2009 erschien endlich die glänzende, detailreiche Biographie des Historikers Daniel Siemens, Horst Wessel – Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, jetzt hat Siemens gemeinsam mit dem Historiker Manfred Gailus ediert, was Wessel an eigener Inszenierung hinterlassen hat, »Hass und Begeisterung bilden Spalier« Die politische Autobiographie von Horst Wessel.
Zeitgeist und Mentalität greifbar
Knapp achtzig Jahre hat es gebraucht, bis endlich unparteiisch klares Licht in den »Fall Horst Wessel« kommt. Die eine Voraussetzung dafür war, dass es endlich Zugang zu etlichen bis 1989 eingemauerten Archivschätzen gibt. Denn zu diesem Fall gehört nicht nur die hocheffektive Nazipropaganda, die Wessel zum Helden und Märtyrer hochgejazzt hatte: Auch die – kommunistische – Gegenseite hat aktiven Anteil an der Mythenbildung. Die zweite Voraussetzung ist ein Historiker aus einer neuen post-war generation, der nach dem Kalten Krieg zu graben anfängt und atemberaubende Spuren auch in beiden anderen Nachkriegsgeschichten findet.
Horst Wessel wurde am späten Abend des 14. Januar 1930 durch einen Nahschuss in den Mund so schwer verletzt, dass er 40 Tage später starb. Eine weitverbreitete Lesart besagt, dass hinter seinem frühen Tod in Wahrheit eine politisch verbrämte Abrechnung zwischen zwei Zuhältern gesteckt habe. Eine andere, dass Wessel nicht an der Schussverletzung gestorben sei, sondern am Antisemitismus seiner »Kameraden« von der »Sturmabteilung« der NSDAP: Sie hatten die Versorgung durch einen jüdischen Arzt abgelehnt. Oder war das Motiv bloß ein ausgearteter Mietstreit?
Der Sohn des deutsch-nationalistischen Pastors Ludwig Wessel, bildungsbürgerlich sozialisiert, war ein radikaler SA-Führer. Der umtriebige Berliner »Gauleiter« Goebbels hatte ihn im Visier, womöglich taugte der junge Mann für die künftige Nazi-Funktionselite. Der Schütze war Albrecht Höhler, auch er führte eine Sturmabteilung – so nannten sich die kommunistischen Straßenkämpfer, weil ihr alter Name Rotfrontkämpferbund verboten war –, aber ihn protegierte allenfalls das »Milieu« rund um den Alexanderplatz, in dem Lumpenproletariat, Ring-Vereine und Polit-Militanz ineinander verfranst waren. »Ali« Höhler war ein Berufskrimineller, auch Zuhälter. Und er war, auf Bitten der Vermieterin, die ihren Untermieter Wessel raushaben wollte, mit einem Trupp in der Wohnung aufgekreuzt, um ihm »eine proletarische Abreibung« zu verpassen.
Wie es dazu kam, was wirklich am Tatort geschah und was danach, das hat der junge Historiker Daniel Siemens drei Jahre lang recherchiert, wissenschaftlich akribisch und leidenschaftlich wie ein detective der Abteilung für Lost Cases. Er fand ein politisches Selbstporträt von Wessel, das bis dato niemand genauer angesehen hatte, und entdeckte die Akten des ersten Strafprozesses von 1930. Sie beweisen, dass der Schauprozess zum selben Fall, den die Nazijustiz 1934 aufgezogen hatte, glatter Justizmord war. Siemens stieß endlich auch auf Else Cohn, die einzige Frau in Höhlers »Abreibungstrupp«, die Heinz Knobloch bei den Recherchen zu seinem Buch Der arme Epstein noch nicht hatte finden können. Else Cohn, Höhler und andere wurden kurz danach von Nazis ermordet, die Täter nie zur Rechenschaft gezogen.
Detektivarbeit ist nicht die einzige Stärke des Buchs: Siemens kann erzählen, kann Zeitgeist und Mentalität jener Generation greifbar machen, in der die erste deutsche Demokratie von innen verblutet war: durch »Hooligans avant la lettre« an beiden Rändern, für die Gewalt die wahre »sinnstiftende Praxis« ist. Allein wie er das Klima aus Straßenschlachten und Krisenstimmung lebendig werden lässt, macht diese Biographie zum page-turner. Aber Daniel Siemens geht noch weiter. Er scheut sich nicht, aus dem, was er ermittelt hat, praktische Konsequenzen zu ziehen. Auf seine Initiative hin hebt im Februar 2009 die Berliner Staatsanwaltschaft endlich jenes Schauprozess-Urteil von 1934 auf, das unter anderem Knoblochs armen Sally Epstein zum Sündenbock erklärt und den Kopf gekostet hatte.
Eine Kladde, fester grüner Einband, unliniertes Papier, 38 Seiten zierlich runde Handschrift, dazwischen oft Bilder mit kurzen Legenden. Dann zwölf Seiten nur eingeklebte Fotos ohne Kommentar, hier und da Bleistiftstriche oder Kreuzchen. Der Rest etwa 40 leere Seiten. Eindeutig kein Tagebuch. Tagebücher haben Daten über Einträgen, keine Kapitel und keinen Titel, der die ganze erste Seite für sich hat: Politika. In griechischer Schrift. Das hier ist ein ambitioniertes work in progress, geschrieben Mitte/Ende 1929. Hier will jemand schriftlich niederlegen, wer er ist respektive sein und werden will. Er heißt Horst Wessel, geboren 1907 als Sohn eines völkisch-großmäuligen Pfarrers, gestorben 1930 als aufstrebender Berliner SA-Truppführer. Sein Leben bricht ähnlich unnatürlich »mittendrin« ab wie der Text. Lange bevor er werden konnte, was er wollte: etwas Höheres bei seinen »Nazi«. Lange auch bevor die NSDAP selbst mehr war als eine extrem fanatische Splitterpartei. Die makabre Ironie: Sein Tod wird zur Krönung seines Lebens. Der Typ taugt zum Märtyrer. Mit unglaublichem multimedialen Zirkus, für den sich auch protestantische Kirchenkreise nicht zu schade sind, wird Horst Wessel unter Goebbels‘ Regie zur Ikone. Mit ihr ködert er nicht nur andere gewaltbereite, erlebnisorientierte Jungmänner mit Sehnsucht nach »Gemeinschaft«, über sie wird er später, nach der Machtübertragung im Januar 1933, auch weite Teile der protestantischen Kirchen in den NS-Staat einbinden. Erstaunlicherweise wird Wessels Bewerbungsschreiben Politika allerdings nie veröffentlicht.
Dass es den Krieg überlebt hat, ist länger bekannt. Vermutlich hat Ralf Georg Reuth es bei Recherchen zu seiner Goebbels-Biographie (1990) in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek zuerst gefunden, aber nicht weiter beachtet. Es blieb auch danach falsch – nämlich wie von Goebbels und der marketingschlauen Familie Wessel – als »Tagebuch« etikettiert und unerkannt als einzigartiges Dokument der »Selbstwahrnehmung und Selbstinszenierung« des Berliner Jung-Nazi-Milieus. Diesen historiographischen Schatz hat erst Daniel Siemens für seine Wessel-Biographie (2009) gehoben. Jetzt haben er und Manfred Gailus, der seit langem über die NS-Verstrickungen des deutschen Protestantismus und speziell den Pfarrer Ludwig Wessel forscht und publiziert, den Originaltext veröffentlicht. Zusammen mit dem zweiten, weniger zielstrebigen Bericht Die grosse Deutschlandfahrt, etlichen Fotos und einer 60seitigen Einleitung. Die Originaltexte und die Fotos sind mit detaillierten Anmerkungen versehen. Die beiden Historiker haben praktisch jeden Satz, jedes Bild abgeklopft und akribisch nachrecherchiert, wo Wessel Geschichtsklitterung betreibt oder einfach auf gut Berlinerisch »den dicken Max markiert«.
So, gut gepolstert mit Fakten, ist das Buch ein faszinierendes, erhellendes Stück Aufklärung. Beim Lesen von Wessels Ergüssen selbst sträubt sich einem alles. Als Prosa betrachtet ist das reiner Schwulst mit drei G: grauenhaft, grammatikschwach und großkotzig. Man weiß nicht, was erschreckender ist, der verquaste Stil oder der Inhalt mit dem auf Krawall gebürsteten »Pubertismus«, der präpotenten Gewaltverliebtheit, der kerlig-soldatischen Führersehnsucht samt Waffennarretei und dem rasenden Hass auf Demokratie und Demokraten. Was Wessel vor allem in seiner Politika niedergelegt hat, ist literarisch in der Tat eine Niederlage. Politisch ist es die Darstellung einer inneren und äußeren Radikalisierung in drei »Abteilungen« – vom Bismarckbund über den Bund Wiking bis zur N.S.D.A.P. Sehr früh kommt er in Kontakt mit den Freikorps-Verbrechern der »Brigade Ehrhardt«, trägt Pistole und führt Terrortrüppchen des rechten Untergrunds mit Namen wie »1.Welle« und »Rollkommando« an.
Wenn man das heute liest, ertappt man sich immer wieder beim Abgleichen mit den Einblicken und Einzelheiten, die man nach und nach über die neuen Nazis von Zwickau und anderswo bekommt. Und vielleicht ist das sogar das Wertvollste, weil Erschütterndste an diesem Buch. Es macht den gern zitierten, aber viel zu lange verharmlosten »fruchtbaren Schoß« sichtbar, dokumentiert seine Wunsch-, Denk- und Gefühlswelten. Die Bilder, die Selbstdarstellungen, der antidemokratische Furor der braunen Terror-Milieus von heute sind denen von damals so ähnlich, als gebe es einen genetischen Code für die Sucht nach einem Dauerspalier aus »Haß und Begeisterung«. Und man fragt sich, wann die ersten heutigen Zellen namens »1. Welle« oder »Rollkommando« enttarnt werden. Denn verehren tun sie ihn bis heute, wenn auch klandestin. Mit Kerzen, Gedenkfeiern und Internetverbreitung.
Erste Versionen dieser Rezension wurden am 9. September 2009 und am 12. Januar 2012 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht.
| PIEKE BIERMANN
Titelangaben
Daniel Siemens: Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten
München: Siedler 2009
352 Seiten, 19,95 Euro
Manfred Gailus und Daniel Siemens (Hg.): »Hass und Begeisterung bilden Spalier« Die politische Autobiographie von Horst Wessel
Berlin: be.bra 2011
200 Seiten, 18 Euro