Bist deppert?

Roman | Vea Kaiser: Blasmusikpop

Wieviel Popliteratur steckt in Blasmusikpop? Wieviel Dialekt verträgt ein moderner Heimatroman? Wie kann Herodot zu einer alpenländischen Saga inspirieren? Die österreichische Jungautorin Vea Kaiser liefert mit ihrem fulminanten Debüt einige Überraschungen. Von INGEBORG JAISER


 Vea Kaiser: Blasmusikpop
Schuld an allem war der Stammrutsch zum Sommerbeginn anno 1959. »Es war später Vormittag, die Holzfäller tranken ihr zweites Bier, aßen Äpfel und reichten die Schnapsflasche im Kreis.« Nur der Madonnenschnitzer Johannes Gerlitzen sucht etwas abseits am Nordhang des Sporzer Alpenhauptkammes nach dem richtigen Material für die Statue, die ihm in Auftrag gegeben wurde. Als die gefällten Fichtenstämme mit einem markerschütternden Poltern abwärts stürzen, treffen sie auf Johannes, dem sie die Schulter ausrenken und den rechten Arm brechen.

Abstruse Alpen-Saga

Doch die toughen Männer in St. Peter am Anger sind hart im Nehmen. Vom Schnaps betäubt, mit einer Holzmanschette notdürftig geschient, überbrückt Johannes den Krankenstand mit dem Beglücken seiner frisch angetrauten Ehefrau Elisabeth und der verschämten Lektüre medizinischer Fachliteratur in der örtlichen Gemeindebücherei. Erst als der ziegengesichtige Doktor aus Lenk im Tal seine zweimonatliche Sprechstunde im Gemeindesaal abhält, ist es amtlich: beiden Eheleuten liegt etwas im Bauch – Elisabeth ist schwanger, Johannes hat einen Bandwurm.

So nimmt die abstruse Alpen-Saga ihren Lauf, die sich fast 500 Seiten lang über drei Generationen, Heerscharen von skurrilen Protagonisten, zahllosen Irrungen und Wirrungen, Komödien und Tragödien erstreckt. Im abgeschlossenen Mikrokosmos eines entlegenen österreichischen Bergbauerndorfes, zwischen »Heustadeln, Holzschupfen, Selchkammern«, folgen die Zeitenläufte einem ganz eigenen Rhythmus: Hier wird das Jahr dominiert von frühlingshaften »Gatschballschlachten«, der Ernte der seltenen Adlitzbeeren und den liturgischen Festen.

Wer sich hier von der Dorfgemeinschaft entfernt und nicht ein anerkanntes Mitglied der Frauengruppe oder des Fußballclubs ist, hat schlechte Karten. So stiehlt sich Johannes Gerlitzen klammheimlich aus dem Tal, um mit gefälschten Papieren Medizin zu studieren – so wie sein Enkel Johannes junior durch geschicktes Vorschützen von Übelkeit und Unwohlsein die vorösterlichen Jugend-Camps boykottiert. »Wie die Wissenschaft in die Berge kam« ist nicht nur Untertitel dieses fulminanten Heimatromans, sondern auch Triebfeder der besserwisserischen Außenseiter des fiktiven Alpendorfes St. Petri am Anger.

Chronik nach Herodot

Wer hinter diesem überbordenden Epos einen altgedienten Literatur-Feinspitz vermutet, liegt falsch. Der pfundschwere Schinken ist das Debüt einer gerade mal 23-jährigen Studentin. In St. Pölten geboren, im ländlichen Raum aufgewachsen, weist Vea Kaisers literarische Vita doch schon die Insignien des gehobenen Schriftsteller-Nachwuchses auf: Finalistin beim Berliner Open Mike, Teilnehmerin einer Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin.

Ihre Vorliebe für groß angelegte Heldensagen bezieht die Jungautorin aus ihrem Hang zur Antike und zum Altgriechischen. So lässt sie auch Johannes junior als selbst ernannten Historiographen eine weitreichende Chronik von St. Petri verfassen – ganz in Herodot’scher Manier. Seiner geschraubten Hochsprache steht der bizarre Kunstdialekt der Bergdörfler gegenüber, der doch so überzeugend klingt, dass ich glaube, das bekannte Idiom meiner Freunde Gerhard aus Graz, Koloman aus Klagenfurt oder Wolferl aus Wien herauszuhören.

Auch wenn das Opus stellenweise allzu sehr detailverliebt und kleinkrämerisch daherkommt, verzeihen wir der Autorin ihre überschießende Erzählerlaune – schließlich bestand das Grundwerk einst aus 2000 Seiten, das dann großzügig, jedoch nicht immer stringent, zusammengekürzt wurde. Dass 1994 in Müttergruppen noch nicht Caffè Latte angesagt war (geschweige denn mit Karamellsirup), mag man der Spätgeborenen gnädig nachsehen. Dennoch: »Fix! Kruzisacra! Leiwand!«

| INGEBORG JAISER

Titelangeben
Vea Kaiser: Blasmusikpop – oder Wie die Wissenschaft in die Welt kam
Köln: Kiepenheuer&Witsch 2012
496 Seiten. 19,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Magritte als Programm

Nächster Artikel

Der Himmel voller Blut

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Terror an der Côte d’Azur

Roman | Dominique Manotti: Marseille.73

Nach Schwarzes Gold (Argument Verlag 2016) ist Marseille.73 der zweite Roman, in dem Dominique Manotti in die Vergangenheit des in mehreren ihrer Bücher auftauchenden Kommissars Théodore Daquin eintaucht. Er führt den eben aus Paris Gekommenen und seine beiden Inspecteurs in die Szene der nach dem Ende des Algerienkriegs 1962 aus dem Maghreb heimgekehrten, so genannten Pieds-noirs. Deren militanter Teil hat sich in der UFRA, der »Vereinigung der französischen Algerienheimkehrer«, organisiert. Als mehrere Morde im algerischstämmigen Milieu die Öffentlichkeit aufwühlen, beginnt Daquin mit seinen Männern zu ermitteln. Und ahnt schon bald, dass ihn die Spuren auch in den Polizeiapparat und die Justizbehörden der südfranzösischen Hafenstadt führen werden. Von DIETMAR JACOBSEN

Der schonungslose Kampf des Lebens

Roman | Karl Ove Knausgård: Kämpfen Wie viel Persönliches darf ein Schriftsteller preisgeben, ohne die Intimsphäre seines Umfeldes zu verletzen? Radikal, authentisch und eindrucksvoll beendet Knausgård seine autobiografische Romanreihe mit essayistischen Gedankenspielen über den (eigenen) schonungslosen Kampf des Lebens. Von MONA KAMPE

Der Spielraum eines Satzes

Porträt & Interview | Ralph Segert im Gespräch mit dem Schriftsteller Martin Lechner

Martin Lechner erzählt über die Fallstricke und Tücken der Schriftstellerei, verrät uns, warum er skeptisch gegenüber dem realistischen Schreiben ist und besteht auf Verführung des Verstandes durch magische Sätze. Ein tiefsinniges Nachdenken über das Schreiben und die Literatur, nicht ohne den typischen Lechner-Humor.

Finale furioso

Roman | Arne Dahl: Null gleich eins

Zum fünften Mal lässt der Schwede Arne Dahl Sam Berger und Molly Bloom ermitteln. Die beiden, die inzwischen eine kleine Tochter haben, werden von einer alten Bekannten, Kriminalhauptkommissarin Desiré Rosenkvist, genannt Deer, mit Ermittlungen zu einer geheimnisvollen Mordserie betraut. Jeweils am fünften eines Monats findet sich an einem jeweils anderen kleinen Sandstrand in den Stockholmer Schären eine sorgsam dort platzierte Leiche. Weil niemand bei der Nationalen Operativen Abteilung (NOA), für die Deer arbeitet, an eine Verbindung zwischen den bereits drei Morden glaubt, engagiert sie Sam und Molly, die mit ihrer kleinen Detektei, der »Bootshaus Security AG« nicht gerade die spannendsten Fälle zu bearbeiten haben und froh sind, endlich wieder einmal »richtige Ermittlungen« aufnehmen zu können. Von DIETMAR JACOBSEN

Das Grauen lauert im Alltäglichen

Roman | Heinz Strunk: Der gelbe Elefant

Wenige Schriftsteller vermögen den absurden täglichen Wahnsinn so gnadenlos abzubilden wie Heinz Strunk. Seine Geschichten – wie die im aktuellen Prosaband Der gelbe Elefant versammelten – bewegen sich jenseits aller Political Correctness und gern auch mal unterhalb der Gürtellinie. Nicht umsonst wurde Heinz Strunk einst von der Zeitschrift Visions zum »David Lynch des Humors« gekrönt. Von INGEBORG JAISER