Auf der Suche nach Robinson Crusoe

Kurzprosa | Jonathan Franzen: Weiter weg

21 recht unterschiedliche Texte vereinen sich in Jonathan Franzens Essayband Weiter weg, und doch verbindet sie fast alle etwas miteinander – die Gedanken an den 2008 verstorbenen Freund und Autor David Foster Wallace. Aber auch die Liebe spielt eine Rolle, die Liebe zur Literatur, zu einer Frau oder zu Vögeln (Franzens große Leidenschaft). Der Autor gewährt tiefe Einblicke und lädt ein, über sich und das Leben zu reflektieren. Von TANJA LINDAUER

Jonathan Franzen: Weiter weg
»I just call to say I love you« – jeder kennt dieses Lied, und vermutlich wird der eine oder andere Leser dieser Rezension nun für den restlichen Tag einen Ohrwurm haben. Doch seit Weiter weg ist es viel mehr als nur ein Song, es ist auch ein Gedanke, ja eine Empörung Franzens. Der rasende Wandel in unserer Gesellschaft macht ihm sehr zu schaffen und dass jeder überall telefoniert.

Und dass auch jeder mithören kann, wenn jemand Liebesschwüre in das Handy flüstert, bezeichnet er als fehlende Rücksichtnahme, die einhergeht mit einer »plötzlichen, mysteriösen, katastrophalen Sentimentalisierung des öffentlichen Diskurses in Amerika.« (»Da möchte ich dann am liebsten nach China auswandern, wo ich die Sprache nicht verstehe.«) Aber wie kann man dieser schnelllebigen Welt überhaupt entkommen?

Nun, Franzen versuchte sich als Robinson Crusoe. In dem Essay Weiter weg schildert der Autor, wie er sich auf den Weg nach »Más Afuera« (weiter weg) macht, einer Vulkan-Insel im Südpazifik. 2010 besuchte Franzen diese Insel, die auch Isla Alejandro Selkirk genannt wird. Defoe-Kenner werden nun aufhorchen, denn ein schottischer Seemann namens Alexander Selkirk soll Defoe als Vorbild für seinen Roman gedient haben. Auf dieser Insel wollte Franzen »einen Gang runterschalten« und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Denn auf der einsamen Insel kann man wunderbar Vögel beobachten.

Der passionierte Vogelbeobachter, der schreibt, dass dieses Hobby uncool sei, betreibt es dennoch mit Leidenschaft. Zudem wollte der Autor hier noch einmal Robinson Crusoe lesen und etwas von der Asche (aufbewahrt in einer Zündholzschachtel) seines Freundes David Foster Wallace, der Selbstmord beging, verstreuen. Auf dieser Insel, weit weg von allem, reflektiert der Autor über sich, seinen Freund, das Einsamsein und die Literatur – genauer über Defoes Robinson Crusoe. Doch sein Ausflug entpuppt sich als nervenaufreibender als geplant: Statt Ruhe findet er sich im Kampf gegen die Natur und seine eigenen Gefühle wieder.

Reiseberichte mit Tiefgang

Alle längeren Texte, wie Weiter weg in diesem Band sind zudem vornehmlich Reiseberichte. Malta, China, Italien und Zypern: Gegenden, in denen Vogelschutz eine Art Fremdwort ist. Und auch das bietet dem Autor Gelegenheit, über unser modernes Leben zu sinnieren und zu klagen. Die Tyrannei der Handys ist immer wieder ein Thema, doch sein Smartphone würde Franzen auch nicht wieder hergeben. Schließlich habe er ja auch nichts gegen Technik, denn die digitale »Mailbox und Anruferkennung, die gemeinsam die Tyrannei des klingelnden Telefons gebrochen haben, sind für mich zwei der großen Erfindungen …«

Aber nicht nur Klagen und Zynismus sind auf den gut 300 Seiten vereint, sondern auch die Liebe zur Literatur findet immer wieder seinen Weg in die Texte. Er ist Feuer und Flamme für nicht beachtete Autoren und vergessene Bücher, bei denen der Leser zugleich Lust verspürt, selbst diese zu lesen. Leidenschaftlich sind alle seine Essays und der Autor gewährt tiefe Einblicke in sein Privatleben, so erfahren wir von seiner ersten gescheiterten Ehe.

Dies alles kann manchmal entmutigend wirken. Ehen, die in die Brüche gehen, Einsamkeit, Freunde, die den Freitod wählen und Wilderer, die Jagd auf Vögel machen. Und dennoch: »Wenn man in seinem Zimmer bleibt und tobt oder spottet oder die Achseln zuckt, wie ich es viele Jahre getan habe, sind die Welt und ihre Probleme entmutigend. Wenn man aber rausgeht und sich in eine wirkliche Beziehung zu wirklichen Menschen oder auch nur wirklichen Tieren setzt, besteht die sehr reale Gefahr, einige von ihnen zu lieben. Und wer weiß, was dann mit einem geschieht?« Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

| TANJA LINDAUER

Titelangaben
Jonathan Franzen: Weiter weg
Reinbek: Rowohlt 2013
368 Seiten. 19,95 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ungleiche Freunde

Nächster Artikel

Die falschen Geister der Vergangenheit

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Schwebend am Abgrund

Kurzprosa | Sarah Raich: Dieses makellose Blau

In diesem Band, der elf kurze Erzählungen der 1979 geborenen Schriftstellerin Sarah Raich versammelt, ist vieles blau: der Himmel, die Augen eines Babys und die eines Mannes, der kaum noch lebt, das Blaulicht, das ihn abholen soll, fünf leuchtende Vogeleier, die Anzeige in einem Auto, über das jemand bald die Kontrolle verlieren wird. Oft ist das Blau trügerisch, wie etwa der Himmel der – relativ kurzen – Titelgeschichte, der nur »eine Hülle zwischen ihnen und der Wirklichkeit ist, der Düsternis des Weltalls und den brennenden Sternen.« Die Frau, die in dieser Geschichte mit ihren Söhnen einen nachmittäglichen Spaziergang macht, hat sich angewöhnt, ihrem Sohn auf seine Fragen das zu antworten, »was nach den vielen Filtern, die sie für ihn zwischen ihre Gedanken und ihre Worte legt, noch übrigbleibt.« Von SIBYLLE LUITHLEN

Ausgespielt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausgespielt

Gramner habe das Thema satt, er würde sich darüber amüsieren, sagte der Ausguck, lachte, nahm kurz Anlauf und schlug einen Salto.

Sich so balanciert zu bewegen, so elegant, so scheinbar schwerelos, fragte Thimbleman, wie sei das möglich.

Der Ausguck lachte und erinnerte nur wieder an Gramners Worte: Eine Epoche tituliere sich als ›modern‹ und erwecke den Eindruck, alle früheren Zeitalter gehörten in die Mottenkiste.

Irre. Ein Marketing, das Maßstäbe setzt.

Mißverstanden

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Mißverstanden

Nein, sagte Ramses IX., Tourismus habe es zu seiner Zeit nicht gegeben, oder sei etwa das Leben geschaffen, damit der Mensch sich vergnügen könne.

Er verstummte und blickte hinaus auf das Wasser.

Was das sei, Tourismus, fragte Harmat.

Diplomatie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Diplomatie

Tilman schenkte Tee nach.

Farb legte sich ein Stück Pflaumenkuchen auf.

An einem ruhigen, milden Nachmittag neigte sich die Sonne geruhsam dem Horizont entgegen.

Ob das so alles richtig sei, wollte Anne wissen.

Kitsch, sagte Farb, wir leben ein kitschiges Idyll, gänzlich unzeitgemäß, die Welt sei aus den Fugen.

Zeitenwende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zeitenwende

Die Ereignisse, in den Zusammenhang gestellt, nahmen ihren Ausgangspunkt in der höchst eigenartigen Zannanza-Affaire, ausgelöst auf Betreiben der ägyptischen Königin Tahamunzu, deren Gatte verstorben war und die sich an das Königshaus der Hethiter wandte mit der Bitte um einen seiner Söhne, sie zu ehelichen.