Roman | Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden
Nichts von euch auf Erden – der neue Roman von Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl. Gelesen von PETER MOHR
Als Reinhard Jirgl vor drei Jahren mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, hatte die Jury seinen »avantgardistischen Schreibgestus« gelobt und sein Laudator, der Literaturkritiker Helmut Böttiger, bezeichnete ihn süffisant als »das, wovor uns die Germanistikprofessoren immer gewarnt haben«.
Jirgl ist wahrhaftig ein Sprachavantgardist reinster Güte, der sich durch seine formalen Marotten, aber auch durch seine durchweg pessimistische Weltsicht in keinerlei künstlerisches oder politisches Korsett pressen lässt. Jirgl, der im Januar seinen 60. Geburtstag feierte, ist ein absolutes Unikat im deutschsprachigen Literaturbetrieb: der größte Schwarzmaler unserer Zeit, aber auch der radikalste Sprachexperimentierer unter den Romanciers. Seine Bücher wollen nicht gelesen, sondern bezwungen werden.
Wie schon in seinen Vorgängerwerken Abschied von den Feinden (1995), Hundsnächte (1997), Die atlantische Mauer (2000), Die Unvollendeten (2003) und Die Stille (2009) bevölkern Figuren mit gebrochenen Biografien und ohne Perspektive die Szenerie – allerdings mit einem feinen Unterschied. Diesmal hat Jirgl seinen Roman in der Zukunft angesiedelt und lässt uns an einem Ausflug zum Mars teilhaben, der kolonialisiert worden ist.
Im fernen 25. Jahrhundert trägt das Personal seltsame, offensichtlich voll digitalisierte Namen: eine Marsbewohnerin, deren Sprache große Ähnlichkeiten mit dem Umgangsdeutsch des 21. Jahrhunderts aufweist, heißt »Io 2034«, und ein Erdbewohner, der alle syntaktischen und orthografischen Regeln ignoriert, hört auf »BOSXRKBN 18-15-9-14-8-1-18-4«.
Und da fühlen wir uns – unabhängig von der Handlungszeit – unverzüglich an Jirgls Sprachvariationen aus früheren Büchern erinnert: an »Party-Sahnen« und »Viehnanz-Lobby«, an »Inn-!West-Tor«, »Papplisitti« und »Mutter Kuh-Rage«. Jetzt ist von »Multi Mülljonäre« und Weisheiten à la »je-olla-je-dollar« die Rede.
Ist das alles wirklich noch originell, gar avantgardistisch? Übersieht Reinhard Jirgl, der so oft mit Arno Schmidt verglichen wird, nicht vielleicht die Gefahr zum Epigonen seiner selbst zu werden? All das, was sowohl formal als auch inhaltlich anregend und innovativ intendiert ist, wirkt bei allzu häufiger Wiederholung extrem gekünstelt und erhält so einen ziemlich faden Beigeschmack.
Über die Verrohung der Sitten, über die rasante Ent-Individualisierung, über das Aufeinandertreffen blinden Fortschrittwahns und konservativem Bewahrertum und über Heimat und Entwurzelung ließe sich fraglos einfacher und gleichzeitig auch prägnanter auf einer zeitnahen Erzählebene schreiben. Von der Unmenge an Verschachtelungen, Fußnoten und Anmerkungen, die kreuz und quer in den Text eingefügt sind, ganz zu schweigen. In der unendlichen Weite zwischen Erde und Mars verwandelt sich das dichterische Fantasiepotenzial in eloquent aufgeppte Beliebigkeit. Ein paar schwache Kondensstreifen am Horizont zeugen noch ein wenig von Jirgls großem Protest-Furor: »Die Welt, ein Lazarett aus Krüppeln und Irren, ein Massengrab für den Rest.«
Reinhard Jirgls Bücher sind noch nie leicht verdauliche Kost gewesen, sie liegen nicht selten auch ganz schwer im Magen. Wenn man etwa liest, dass sich die Marsbewohner vom Fleisch kleiner Kinder ernähren, und die Schlachtung erfolgt »wie Früher beim-Spanferkel«, dann kann sich sogar (trotz der viel beschworenen Freiheit der Kunst) heftiges Unwohlsein einstellen.
Die Lektüre von Reinhard Jirgls neuem Roman Nichts von euch auf Erden ist – im Duktus des Dichters gesprochen – 8ung! ein 2felhaftes Fair-Vergnügen.
| PETER MOHR
Titelangaben
Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden
München: Carl Hanser Verlag 2013
510 Seiten. 27,90 Euro