Wenn ich ’nen See seh …

Musik | Toms Plattencheck

… brauch ich kein Meer mehr! Keine Sorge! Auf diesen Alben sind nur die Cover verwässert. Die Musik hingegen klingt reif und erdverbunden. Und gipfelt im Hochland-Jazz! Von TOM ASAM


meer1
Stürmische See auf dem Cover. Dort nicht ersichtlich: Die Band heißt Volcano Choir. Vulkan-Chor und Meereswogen – irgendwie passend für einen, der den Naturburschen-Stempel verpasst bekommen hat. Hinter Vulcano Choir steckt nämlich Justin Vernon, bestens bekannt als Bon Iver. Der hatte sich für sein Debüt For Emma, forever ago ja der Legende nach in einer einsamen Blockhütte vergraben um sich von Mutter Natur inspirieren zu lassen. Das 2009 erschienene Vulcano Choir Debüt Unmap hingegen war eher das Sprungbrett um sich von einseitiger Rauschebart- Zuweisungen zu entfernen. Zusammen mit den Musikern der Postrock Truppe Collection of Colonies of Bees machte sich Vernon unter dem Vulkan Banner daran, unbeschwert mit Stimme, Sounds und Produktionstechniken zu experimentieren und eine ordentliche Portion Pop zuzulassen, was wiederum dem zweiten Bon Iver Album hörbar zugute kam. Der erneute Vulkanausbruch scheint nun jede Menge fruchtbare Asche mit sich zu bringen. Weder Bardentum noch Experiment stehen hier im Vordergrund, sondern die Songs, die deutlich hörbar im Bandkontext entstanden sind. Vernon verfällt nur selten in die als Markenzeichen geltende Kopfstimme, auch die Mehrfachüberlagerungen seiner Stimme, wie sie auf Unmap des öfteren zu hören waren, spielen keine prägende Rolle. Repave ist songorientierter Indierock, der Melodie und mystische Momente äußerst unverkrampft in Einklang bringt und die Synapsen zum Glühen bringt. So kommen mir beim Hören des hymnischen Set Sail mit seiner großartigen Gitarrenlinie von Chris Rosenau gleichzeitig Gastr del Sol und Elbow in den Sinn! Für mich ist Repave Vernons bisher reifstes Werk.

meer2

Von Meereswellen und Vulkan zu Meereswellen und Gletscher-Anspielung. Und es geht spitzenmäßig weiter. Western Lows ist im Prinzip Jack Burnside, der sich mit der kalifornischen Neo Shoegaze (um nicht »Nu-Gaze« zu bemühen) Band Mezzanine Owls einen Namen machte. Bei Glacial griff ihm der Multiinstrumentalist Andy Le Master unter die Arme, der nicht nur Mitglied der Indierocker Now its Overhead ist, sondern auch schon großen Bands wie R.E.M. mixte bzw. produzierte. Womit auch schon die hörbaren Zutaten dieses Albums zusammengetragen wären: es geht hier um den Indie-Untergrund der 80er und 90er: Dreampop a la Mazzy Star in ruhigeren Momenten und der Einfluss von Gitarrenbands von My Bloody Valentine (höre Lazy) bis zu The Cure (Icicles) werden hier mal wieder vermählt. Auch wenn sich mittlerweile unzählige Bands dieser Zutaten bedienen, kann man sich nicht satthören – zumindest, wenn es so stimmig gemacht ist, wie hier. Einige bekannte Namen mischen auch noch mit: Burnsides Stimme bekommt Unterstützung von Ordenda Fink (Azure Ray), die Drums bedient zum Teil Clay Leverett (Bright Eyes).

meer3

The National Jazz Trio of Scotland ist eine Inkarnation des Multiinstrumentalisten Bill Wells – es handelt sich dabei allerdings weder um ein Trio noch wirklich um Jazz, und eine offizielle Vertretung eines Landes stellen dies Musiker natürlich auch nicht dar. Man muss sich nicht wundern, Briten haben eine eigene Art von Humor, und Schotten machen gerade im Bereich der populären Musik gerne noch mal ihr eigenes Ding. Wells, der unter anderem schon mit Avantgarde-Künstlern wie Jim o´Rourke und dem Saxophonisten Lox Coxhill zusammenarbeitete, unterläuft hier auch alle Erwartungen. Hatte das Debüt des TNJTOS noch mit ungewöhnlichen Bearbeitungen von Weihnachtsliedern gepunktet, hat Vol. II weder damit, noch mit sonstigen Standards was zu tun. Es ist vielmehr eine entspannte und zurückhaltende Indievariante von Easy Listening für Fortgeschrittene. Was zunächst fast etwas einlullend daherkommt, entfaltet sich beim dritten oder vierten Hören erst zu einem subtilen Hörgenuss mit gelegentlichen Anspielungen an die ruhig-melancholischen Melodie-Momente der Beach Boys und den Humor von Bands wie The Leisure Society. Zwei Standards gibt es bei diesen, interessanterweise mit Hilfe von Laien-Sängern eingespielten Songs dann doch, zumindest Coverversionen: den schottischen Folk-Song Mary of Argyle und My Tiny Butterfly von Moondog.

| TOM ASAM

Titelangaben
Vulcano Choir: Repave – Jagjaguar / Cargo Records
Western Lows: Glacial – Highline records / Roughtrade
The National Jazz Trio of Scotland: Standards Vol. II – Karaoke Kalk / Indigo

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Jener tiefe Graben zwischen Europa und Saudi-Arabien

Nächster Artikel

Kinder, Kinder

Weitere Artikel der Kategorie »Platte«

Was die bayerische Seele zusammenhält

Musik | Stimmen Bayerns: Der Rausch Gedichte, Kurzgeschichten, Songs, Sketche und mehr. Nach Die Liebe und Der Tod folgt mit Der Rausch der nächste essentielle Baustein dieser einzigartigen Enzyklopädie der bayerischen Seele. Prost, sagt TOM ASAM.

Free Jazz & Free Space & Impro

Musik | Fire! Orchestra – Enter Vorwärtstreibende Strukturen aber auch träg-klagende bluesige Grundstimmung im Free Jazz sind kennzeichnend für ›Enter‹ des schwedischen Fire! Orchestra um den markanten Saxofonisten Mats Gustafsson. Von TINA KAROLINA STAUNER

Der böse Busch

Hörbuch | Wilhelm Busch: Der Schmetterling

Wer sich in seiner Kindheit stets gewundert hat, warum Max und Moritz – nebenbei bemerkt auf durchaus brutale Art und Weise – sterben müssen, der kann nun in diesem wunderbaren Hörbuch die andere Seite Wilhelm Buschs, einen gebrochenen spätbiedermeierlichen Radikalmoralisten mit einem gewissen Hang zur psychischen und physischen Brutalität, in ihrer vollen Blüte kennenlernen. Von SEBASTIAN KARNATZ

Folkdays aren’t over – Broken Twin

Musik | Broken Twin – May Majke Voss Romme als Broken Twin: Lo-Fi-Attitude, Reduktion, Minimalismus und liebevolle Kleinigkeiten und Details in melancholschen und hoffnungsvollen Liedern von ›May‹. Von TINA KAROLINA STAUNER

Nirgendwo ein Haar in der Suppe

Musik | The Tallest Man On Earth: Dark Bird Is Home Der skandinavische Folkmusiker The Tallest Man On Earth wird mit jedem Album reifer, poetischer, besser. Morgen erscheint Album Nummer vier. MARTIN SPIESS hat es gehört.