/

Schuld und Sühne

Roman | Alastair Bruce: Die Wand der Zeit

Alastair Bruce wagt sich in seinem Erstlingsroman gleich an die großen Themen der Menschheit. Schuld, Sühne, Verantwortung, Moral, Menschlichkeit, darum geht es in der Wand der Zeit. Es ist eine erstaunliche Parabel über die Grundsteine des Menschseins und darüber, ob sich an ihnen rütteln lässt. VIOLA STOCKER ließ sich in eine weit entfernte Zukunft entführen.

wandzeit
Der in Südafrika aufgewachsene, aber mittlerweile in Großbritannien ansässige Bruce erzählt seine Parabel in Form einer Robinsonade. Bran, der Protagonist, lebt fernab jeglicher Zivilisation auf einer öden Insel. Über jeden Tag, den er auf der Insel verbringt, führt er Buch. An der Wand der Höhle, in der er haust, zeigt eine Strichliste, dass er bereits mehr als zehn Jahre auf dem Eiland lebt. Auch mit den Ressourcen, die ihm auf der Insel zur Verfügung stehen, geht er verantwortungsvoll um, er rationiert Brennvorräte, Nahrungsmittel, Wasser und Werkzeuge, um so zu leben, dass die Insel ihn bis ans Lebensende versorgen kann.

Idylle in der Postapokalypse

Über sich selbst gibt Bran nur Spärliches preis. Er wurde von der Regierung seines Landes verbannt. Als Grund seiner Verbannung nennt er unliebsame politische Entscheidungen, die er als Staatschef getroffen hatte. Bran sieht sich als Opfer politischer Veränderungen. Man gewinnt den Eindruck, er sei abgeklärt genug, sein eigenes Schicksal objektiv wahrzunehmen, zumal im Laufe der Parabel ans Tageslicht gelangt, dass ausgerechnet sein Freund und Berater Abel zusammen mit seiner Geliebten Tora verantwortlich für Brans Entmachtung als Regierungschef gewesen waren.

Dies alles geschieht im Umfeld einer postapokalyptischen Weltordnung. Die Vielfalt der Welt ist der Bipolarität gewichen. Es stehen sich die Völker von Bran und Axum in erbittertem Hass gegenüber. Die Menschheit ist nach Ansicht Brans kulturlos geworden. Große Städte und Forschungsgeist gehören der Vergangenheit an. Die natürlichen Ressourcen sind knapp geworden, Axum und Bran bekriegten einander über zehn Jahre. In diesem Umfeld machte Bran Karriere als General und Staatsmann. Er schloss Frieden mit seinem Verhandlungspartner Andalus von Axum und widmete sich dem Wiederaufbau seines Landes.

Sehnsucht nach Vergebung

Das idyllische Exil wird jäh gestört durch die Ankunft eines weiteren Gestrandeten. Bran identifiziert den Neuankömmling als seinen ehemaligen Verhandlungspartner Andalus von Axum. Andalus schweigt und kann Brans Neugierde nicht befriedigen, so dass ihm eine Rückkehr nach Bran als einzige Alternative erscheint. Tatsächlich gelingt es den beiden, unbemerkt an die Küste von Bran zu gelangen. Vermehrt fungiert Andalus als Spiegelbild für Bran, der so vor sich selbst seine Handlungsmotive und Entscheidungen als Führer seines Volkes rechtfertigen möchte. Doch als Bran seine Heimatstadt betritt, schlagen ihm statt Hass und Ablehnung Gleichgültigkeit entgegen.

Die Menschen in Bran erkennen ihn und seinen Begleiter nicht. Fast zweifelt der Leser selbst am Schicksal Brans. Jeder Hinweis auf seine Existenz ist in der Stadt getilgt worden. Bran hätte nun die Chance, ein neues Leben zu beginnen. Doch für Bran ist es unmöglich, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er fordert Vergebung und Verständnis. In einer letzten Gerichtsverhandlung will er beides erreichen, doch es ist schließlich Abel, sein Nachfolger und Counterpart, der ihm zu verstehen gibt, dass eine Gesellschaft, wenn sie gesund bleiben soll, nicht mit der Mitschuld an solch einem Genozid – denn als solcher entpuppen sich Brans Fehlentscheidungen – leben kann.

Ein guter Einstieg mit Haken

Das Ende der Parabel ist auch ihr schwacher Punkt. Alles, was Bran mit seiner Vergangenheit verbindet, wird ausgelöscht. Seine Geliebte Tora wird gehängt, der gespenstische Andalus verschwindet, ein Kind, das er für seine Tochter hält, verlässt ihn. Er selbst flüchtet vor dem sicheren Tod zurück ins Exil. Doch dort findet er nicht mehr den Frieden, den er sich erhofft hatte. Seine Toten verfolgen ihn stets, er findet sogar eine gespenstische Moorleiche. Sie wird zu seinem neuen Alter Ego, um das er eine Legende webt. Ein Märchen, in dem ein sagenumwobener Herrscher unter dem Dank der Bevölkerung geopfert wird zum allgemeinen Wohlergehen.

Alastair Bruce’s Parabel bleibt lesenswert, trotz der manchmal zu offensichtlichen Metaphern, weil sie die Frage nach Schuld und Sühne nicht beantworten kann und sowohl den Leser als auch den Protagonisten allein lässt mit der Sehnsucht nach Frieden. Es hätte weder der Figur des Andalus bedurft noch der völlig überflüssigen Moorleiche, um das Grunddilemma darzustellen. Bruce’s klare, drastische Ausdrucksweise genügt völlig, um im Leser ein befremdliches, beklemmendes Gefühl hervorzurufen, das man vielleicht jedesmal bekommt, wenn man sich insgeheim fragen muss, wie viel Schuld an einem Unglück die eigene Person trifft.

| VIOLA STOCKER

Titelangaben:
Alastair Bruce: Die Wand der Zeit
Aus dem Englischen von Malte Krutzsch
München: Kunstmann 2012
256 Seiten. 18,95 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Christoph Heins aktuelles Buch »Vor der Zeit« erzählt alte Mythen neu

Nächster Artikel

Sind es Comics oder Bücher?

Weitere Artikel der Kategorie »Debüt«

Kurze und bündige Sprachspielereien

Roman | Markus Öhrlich: Die beste erstbeste Gelegenheit Nichts weniger als ein kleines, sich über achtundfünfzig Seiten erstreckendes Meisterwerk legt Markus Öhrlich mit seinem Debütroman Die beste erstbeste Gelegenheit vor, ein Meisterwerk lakonischer Sprachspielereien. Von RÜDIGER SASS

Was vom Bade übrig blieb

Comic | Pierre Oscar Lévy/Frederik Peeters: Sandburg Die Zeit rennt davon, der Raum wird klein: Sandburg seziert das Miteinander unterschiedlicher Menschen in einer mysteriösen Extremsituation. Von CHRISTIAN NEUBERT

Klick und ratsch!

Roman | Nina Sahm: Das letzte Polaroid Übermütige Momentaufnahmen und eine innige Mädchenfreundschaft, trügerische Erinnerungen und die Vergänglichkeit aller Dinge sind die verbindenden Themen von Nina Sahms leichtfüßigem Erstlingsroman. Was passiert, wenn das Schicksal zuschlägt und als Andenken nur noch Das letzte Polaroid übrig bleibt? Von INGEBORG JAISER

Nairobi 2007: Ein Massai sucht einen Mörder

Krimi | Richard Crompton: Wenn der Mond stirbt Nairobi im Dezember 2007. Vor der anstehenden Präsidentschaftswahl bauen sich die Spannungen zwischen den politischen Lagern und unterschiedlichen Volksgruppen in Kenia immer mehr auf. Ist unter den Rivalisierenden auf den Straßen auch der Mörder einer jungen Frau zu finden, dem der Massai-Ermittler Mollel nachjagt? Richard Cromptons Krimidebüt Wenn der Mond stirbt hat Atmosphäre und ist kenntnisreich und spannend geschrieben. Von DIETMAR JACOBSEN

Unordnung und frühes Leid

Roman | Andrea Sawatzki: Ein allzu braves Mädchen Andrea Sawatzki war in ihrer Jugend Ein allzu braves Mädchen. So hat sie der Protagonistin ihres Debütromans nicht nur die schmale Statur und auffallend rotblonde Haare verliehen, sondern auch die Erfahrung kindlicher Überforderung. Die schließlich in einen tragischen Mordfall mündet. Von INGEBORG JAISER