Von Nichtschwimmer und Wasserratten

Kinderbuch | Gideon Samson: 70 Tricks, um nicht baden zu gehen

Wenn man als Junge dazugehören möchte, muss man schwimmen können Sonst verpasst man Dinge wie Geburtstagspartys, bei denen im Erlebnisbad gefeiert wird. Und was, wenn man Wasser hasst, ja sogar Angst davor hat? Dann braucht man Tricks. Gidd hat eine Menge davon und ANDREA WANNER staunte nicht nur über seinen Einfallsreichtum.

70 TricksGidd ist nicht das, was man wasserscheu nennen kann. Das Problem liegt tiefer. Gidd hat panische Angst vor Wasser und davor, ertrinken zu können. Mit Ach und Krach hat er das A des niederländischen Schwimm-ABCs geschafft, vergleichbar dem Seepferdchen. Schon dazu musste er einige Bahnen brustschwimmen, einige auf dem Rücken und ein Teil angezogen, mit Jeans und T-Shirt. Ein besonderer Albtraum für ihn war das Wassertreten – beim A-Diplom immerhin schon eine ganze Minute lang. Das B-Abzeichen ist aussichtslos, denn da kommt noch das Tauchen dazu. Alle kriegen es hin – alle aus seiner Klasse haben es schon geschafft und teilweise sogar schon die Drittklässler- nur Gidd nicht. Guter Rat scheint teuer.

Eine rote Badehose

Es ist nicht so, dass Gidds alleinerziehende Mutter seine Ängste nicht ernst nimmt. Er darf sich eine Badehose aussuchen, der Preis ist egal. Sie ist rot und eigentlich wirklich toll. Aber sie hilft nicht. Nichts hilft. Da kümmert sich seine Mutter sogar um einen Termin bei einer Psychologin. Ängste kann man überwinden. Aber Gidd hat keine Ahnung, wie das funktionieren soll. Stattdessen hat er ein ausgeklügeltes System von Tricks, hat Ausreden zusammengestellt, die durchnummeriert fein säuberlich in ein Heft eingetragen sind. Es gibt zum Beispiel den Trick 2, den Fußballtrainingtrick, der schon am Vortag des Schwimmens mit gespieltem Unwohlsein beginnt, sodass das Fußballtraining grad noch durchgezogen werden kann, danach aber der Zusammenbruch erfolgt und mit einem Tag So-tun-als-wäre-man-endgültig-krank das Schwimmtraining genial umgangen werden kann. Es gibt den Trick 44, den Ich-habe-mein-Schwimmzeug-vergessen-Trick oder den Trick 7a, leicht variiert als 7b, der so aussieht, dass die Abfahrt des Busses auf der Schultoilette verpasst wird. 70 Tricks hat Gidd, aber das Problem wird dadurch nicht kleiner.

Leidvolle Donnerstage

Für die Fälle, in denen der Junge dem Schwimmtraining doch nicht entkommt, gibt es noch eine Art Maskottchen: Einen Tauben fütternden Mann, an dem der Bus auf dem Weg zur Schwimmhalle vorbeifährt. Ist der Mann da, wird er zumindest nicht ertrinken, hat sich Gidd zurechtgelegt. Aber dann fehlt dieser wichtige Rettungsanker plötzlich, der Mann füttert keine Tauben mehr und Gidd sieht sein Ende nahen.

Gideon Samson schildert diesen Albtraum aus der Sicht des Jungen. Man kann das Unwohlsein nachvollziehen, die Angst spüren. Sie ist nicht albern und kann nicht einfach beiseitegeschoben werden. Gidd empfindet die Situation als bedrohlich und das reicht. Ob da ein bisschen Autobiografisches versteckt ist? Die Widmung, die auf eine Episode in der Geschichte anspielt, lässt es vermuten: »Für meine beiden großen kleinen Schwestern, die so lange geduldig auf ein Schlauchboot gewartet haben.« Bei Gidd in der Geschichte sind es die beiden Cousinen – aber auch ihnen wird das Schlauchboot erst gewährt, wenn alle drei Kinder, die damit rumpaddeln wollen, schwimmen können. Und das scheitert an einem … Aber das lässt sich leider nicht ändern. Man kann Dinge wollen und sie trotzdem nicht hinkriegen. Schwimmen gehört dazu und die Situation es als einziger nicht zu können, macht es noch schwerer. Schulschwimmen als Horror. Vielleicht kann das doch der eine oder die andere nachvollziehen.

Was das Buch, außer der Tatsache, dass ein junger Nichtschwimmer ernst genommen wird, so besonders macht, ist die wunderschöne Ausstattung. Die Schrift ist wasserblau, sodass die Zeilen kleinen, sich sanft kräuselnden Wellen gleichen und jedes Kapitel beginnt auf der linken Seite, die Kapitelnummerierung ist in einem Startblock untergebracht, darunter statt Schrift zunächst – Wasser. Und auf jedem der 16 Kapitelanfangsszenen ist Gidd zu sehen. Als wasserscheuer Skeptiker, als Verzweifelter, als tollpatschig Stolpernder, erst am und dann unglücklich im Wasser.

Anke Kuhl hat ihre sorgfältig beobachtete Studie in den kleinen Bildern festgehalten. Und sie liefert im letzten Kapitel auch das Abschlussbild, das der Text so nicht formuliert. Aber vielleicht war es genau so, vielleicht geschieht an diesem letzten Donnerstag etwas, dass dafür sorgt, dass der Donnerstag nicht länger der schlimmste Tag der Woche ist. Das Bild sieht so aus. Und die Tatsache, dass Gidd lacht, spricht eigentlich auch dafür, dass die 70 Tricks für immer in der Schublade verschwinden können.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Gideon Samson, 70 Tricks, um nicht baden zu gehen (Met je hoofid boven water, 2010)
Mit Bildern von Anke Kuhl
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Hildesheim: Gerstenberg 2014
144 Seiten. 12,95 €
Kinderbuch ab 8 Jahren

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