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Mit dem Schwarzgeld aus dem Paradies

Roman | Martin Lechner: Kleine Kassa

Der Salzburger Residenz Verlag überrascht – beinahe möchte man sagen wie immer mit gewohnter Zuverlässigkeit – mit einem außergewöhnlichem Roman. Der aus Norddeutschland stammende Schriftsteller Martin Lechner hat mit Kleine Kassa ein recht temporeiches und humorvolles Debüt vorgelegt, das zwar als »Heimatroman« auf dem Buchumschlag angekündigt wird, allerdings jegliche regionale Klischees und alle biedere Sentimentalität durchbricht. Von HUBERT HOLZMANN

entw_kassa_final.inddMartin Lechner, Jahrgang 1974, wohnhaft in Berlin, erzählt in seinem Erstling Kleine Kassa die Geschichte eines Lehrlings, der irgendwo in der Lüneburger Heidelandschaft lebt und arbeitet und aus einer spontanen Laune heraus mit dem Schwarzgeld seines Meisters durchbrennt und von da ab seinem kleinen, vielleicht etwas langweiligen, aber bislang gesicherten Leben davonrennt.
Aber wohin soll er in der Provinz flüchten? Wo kann er einen Unterschlupf suchen? Also erst mal ab in den Wald, durchs Gebüsch, über Wiesen und Felder? Oder kurz mal untertauchen im nächstgelegenen Wirtshaus? Sich am besten eine neue Identität zulegen? So einfach es zunächst scheint, sich auf und davon zu machen, so schnell kommt ein Stein ins Rollen, der nicht mehr zu bremsen sein wird.
Jedenfalls nicht für Georg Röhrs, dem »Helden« in Martin Lechners Roman Kleine Kassa. Für ihn ist nur eines gewiss: Er will weg. Ein bisschen Geld kann da nicht schaden. Jedoch: Einen genauen Plan hat er nicht, als er spontan und ein wenig überstürzt von seinem gewohnten Tagesrhythmus abweicht und nicht, wie von seinem Chef aufgetragen, zur Kofferübergabe beim Termin mit dem Filialleiter der Hausbank erscheint. »In weniger als achtunddreißig Sekunden würde er, Georg, der Lehrling von Oskar Spick, durch die Welt laufen, nichts anderes als einer dieser Bettler und Verbrecher, denen der Chef die ausgestreckten Hände am liebsten an den Kopf nageln würde. Die Uhr vor den Augen, rannte er durch das Dickicht.« Georgs Abenteuer kann also beginnen.

Einmal quer durch die Heimatauen

Als erstes stolpert Georg auf seiner nächtlichen Jagd durch den Wald über eine Männerleiche. Er entnimmt ihren Ausweis. Eine neue Identität kann ja nicht schaden. Am darauffolgenden Morgen spürt ihn zufällig ein Mopedfahrer auf, der Kontrollfahrten über die Äcker unternimmt. Georg entwendet dessen fahrbaren Untersatz und setzt damit seine halsbrecherische Flucht fort. Sein Weg gestaltet sich allerdings als sehr hart und beschwerlich. Er hat nämlich keine Vorbereitungen für seine Flucht getroffen. – Was ihn antreibt, ist einzig sein alter Kindheitstraum, einmal als Liftboy in einem Hotel am Meer zu arbeiten.
Georg ist überhaupt nicht für dieses Outdoor-Abenteuer gerüstet. Er trägt noch seinen besten Geschäftsanzug, ein weißes, frisch gebügeltes Hemd, die feinen Lederschuhe, eine teure Uhr. Dem »Galopp« über Stock und Stein halten diese Kleidungsstücke natürlich kaum Stand. Das Hemd ist sofort zerrissen, die Hose verdreckt, die Schuhe »widerlich zerkratzt«.

Aus Verzweiflung, Hunger und Müdigkeit handelt er nach ein paar Stunden bereits völlig panisch und überstürzt: Er kehrt in ein Wirtshaus im Nachbardorf ein, bestellt etwas zu essen, zu trinken, mietet sich ein Zimmer für die Nacht und wird in dieser Dorfschenke, wie man sich denken kann, jedoch schon recht bald als der gesuchte Mopeddieb enttarnt. Wiederum gelingt ihm auf recht abenteuerliche Art und Weise die Flucht, obgleich der Wirt samt Stammtisch ihm auf den Leib rückt. Mit Hilfe der Tochter des Wirts, die in Georg ihren Retter sieht, – vielleicht mögen das schmuddelige Wirtshaus und der grauenvolle Vater als zu tötender Drache herhalten – entkommt er im letzten Augenblick, bevor er massakriert wird.
»Es blitzte… Den Schlüssel im Zündschloss, zählte er die Sekunden bis zum Donner. Vielleicht wälzte sich gleich der Wind über die Felder und Regen prasselte nieder auf den Weg seiner Flucht. Egal, Hauptsache, er war raus aus dem verdammten Ginsterhof.« Martin Lechner würzt seinen Roman so wie die kurze Provinzposse im Wirtshaus mit einer durchaus guten Prise Humor. Sein Erzähltempo ist hoch und er verpackt seine Ideen virtuos.

Außen daheim

Nun geht es für Georg in seine Heimatstadt – hinter der nahegelegenen größeren Stadt im Heidekreis mag sich wohl Lüneburg verbergen. Hier hat er die Zweitwohnung vom Chef gemietet, hier wohnen seine Familie, seine Freunde. Hier kennt er sich aus wie in seiner Westentasche, kennt versteckte Unterschlüpfe in der Umgebung, kennt abgelegene Plätze. Denn der Weg zurück in sein Zuhause ist ihm versperrt. Vermutet er doch zurecht, dass ihm sein Chef auf den Fersen ist und dort auf ihn wartet.

Georgs Hinrichtungsphantasien schienen in diesem Zusammenhang nicht ganz unbegründet. Also parkt er erst einmal beim nächsten Friseur und verlangt eine neue Frisur. Logisch. Es soll ihn keiner so schnell erkennen. Hat er doch noch einiges zu erledigen, bis er den Traum von einer Hotelkarriere im Süden verwirklichen kann.

Und außerdem will er nicht ganz alleine fliehen. Noch immer träumt er davon, dass er seine Jugendliebe Marlies mit ans Meer nehmen wird. Auf dem Weg durch die Stadt wird er jedoch sehr bald von Clemens, seinem Freund erkannt. Und noch einige seltsame Gestalten verwickeln ihn in unangenehme Gespräche. Und so gibt es für Georg wieder nur eines: auf und davon. Und zwar so schnell wie möglich. Mit endlosen Wirrnissen.

Bedrohliche Idylle

Bemerkenswert sind in Martin Lechners Kleine Kassa die vielen kleinen Einwürfe, die der Autor in den sukzessiv ablaufenden Handlungsstrang einwebt: Erinnerungen, Gedanken, Träume. Immer wieder fällt Georg auf seiner Flucht vor Erschöpfung in einen kurzen Sekundenschlaf. Dann träumt er von seiner Familie, den Freunden, seiner Schulzeit, der Lehrzeit. Und rechnet in Gedanken mit allem ab. Dann wieder rechnet er kleingeistig seine Ersparnisse zusammen: »Im Endeffekt hatte Georg jedoch deutlich mehr gespart und wäre mit einem guten Riesen im Plus gewesen, wenn es ihn nicht immer wieder dazu hingerissen hätte, sich ein Jackett zu kaufen, irgendsoein kostspieliges Miststück, das er mit Ausnahme gelegentlicher dienstlicher Verwendungen, zum Beispiel auf den Fahrten zur Kleinen Kassa, meist nur allein vor dem Spiegel trug«. Immer im Zentrum – Georg sebst.

Erstaunlich ist es auch, wie Georg dabei mit den Gegenständen, die ihn umgeben, in einen stillen Dialog tritt, wie sie in sein Leben eingreifen. So erhält in Martin Lechners Text die Natur, in die Georg als Fremdling eindringt, ein bedrohliches Eigenleben, eine fast magische Seite. Das Florale wird so eine Art Gegenwelt, in der sich Georgs Innenleben spiegelt. Für ihn ist »kaum abzuschätzen, was unter den Blättern alles auf der Lauer lag«, »Äste schrammten ihm durchs Gesicht«, »zischelnde Blätter und [Mais]Kolben mit bräunlichen Kräuselbärten strichen ihm durchs Gesicht«, »hinterhältiges Grünzeug streifte irgendwelche Läuse oder Spinnen ab«.

Georg löst sich von seinem Zuhause, weil er selbst es zerstört hat. Wie in einer Rückschau besichtigt er alle seine bisherigen Lebensstationen noch einmal, Vater, Mutter, die Freundin, die Bekannten. Läuft ihnen noch einmal kurz über den Weg, sucht ihre Plätze und Orte auf, um sie dann auszulöschen. Den Job, die Wohnung, seinen Besitz. »Vor zwei Tagen hätte er im Traum nicht gedacht, dass er ohne seine festen vier Wände leben könnte, im Gegenteil, sterben, dachte er, müsste er, sobald er nur einen Tag ungeschützt im Freien stünde.«

Martin Lechners Hauptfigur Georg – in gewisser Weise vielleicht doch ein Alter Ego des Dichters – tilgt in Kleine Kassa in einer turbulenten, abenteuerlichen und durchaus humorvollen Flucht die Spuren seiner Herkunft, seiner Heimat, um Platz für Neues zu haben, Platz für seine Träume. Ein sehr lesenswertes Debüt.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Martin Lechner: Kleine Kassa
St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz Verlag 2014
262 Seiten, 22,90 Euro
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