Unausgesprochenes

Jugendbuch | Joyce Carol Oates: Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe

Die Quaker Heights Day School ist eine angesehene Privatschule in der Nähe von New York. Merissa und Nadja verbringen dort ihr letztes Schuljahr, Tink ist nicht mehr dabei. Drei ganz unterschiedliche Mädchen, drei Schicksale. Joyce Carol Oates zeichnet ein düsteres Bild vom Erwachsenwerden. Von ANDREA WANNER

Oates_978-3-446-24632-4_MR1.inddDer Jugendroman ist in drei Teile gegliedert, jedem der drei Mädchen ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Im Mittelpunkt des ersten steht Merissa, einer beliebten, erfolgreichen Schülerin mit vielen Talenten, die schon vor ihrem Abschluss eine Zusage für einen Studienplatz an der renommierten Brown University erhalten hat. Aber hinter der Fassade des „perfekten Mädchens“, dem alles gelingt, verbirgt sich eine andere. Im dritten Teil treffen wir auf die unsichere Nadja, die nicht weiß, wie sie sich gegen die Angriffe und das Mobbing ihrer Mitschüler zur Wehr setzen soll und sich nur von einem Lehrer verstanden führt – was fatale Folgen hat. Das Bindeglied zwischen Merissa und Nadja ist Tink, ein ehemaliger Kinderstar, die eine kurze Zeit eine ebenso faszinierende wie rätselhafte Freundin für Merissa und Nadja ist, ehe sie für immer verschwindet: Tink begeht Selbstmord.

Waren die drei Freundinnen? Was macht überhaupt eine Freundschaft aus? Wie wenig Merissa und Nadja über Tink wissen, wird ihnen erst bewusst, als Tink nicht mehr lebt. Die selbstbewusste Tink, die sich über alle Regeln hinweg setzte, und deren Verletzlichkeit dennoch auch immer spürbar war. Was wissen Merissa und Nadja übereinander? Joyce Carol Oates setzt ihr Bild über die drei Mädchen aus kleinen Teilen zusammen, die sich nach und nach zu einer Geschichte, zum Panorama einer Gesellschaft fügen. Die Orientierungslosigkeit, die Suche nach Liebe und Anerkennung zieht sich quer durch das Buch. Alle drei stammen aus »guten« Familien, die über das notwendige Geld für eine »angemessene« Privatschule verfügen. Und bei allen Dreien ist die glückliche Familie eine Illusion, ein Phantombild, das nicht taugt, Sicherheit und Wärme zu geben. Merissas Eltern sind gerade dabei sich zu trennen, wobei ihre Mutter es nicht wahrhaben will, ihren Kummer mit Alkohol betäubt, und Merissa sie dafür verachtet. Statt sich mit der Mutter zu solidarisieren, die damit klarkommen muss, das ihr Mann sie mit einer anderen betrügt und verlässt, tut Merissa alles, um die Aufmerksamkeit und Zuneigung ihres Vaters zu bekommen. Nadja muss eine Stiefmutter ertragen, die dritte Frau ihres Vaters nach dem Tod ihrer Mutter – über den aus gutem Grunde nie gesprochen wird.

Für sie scheint es in dieser neuen Beziehung keinen Platz zu geben, Anker- und Zufluchtspunkt ist eher die Haushälterin in der heimeligen Küche als das Modell mit französischem Akzent, mit dem der berufliche Vater sich dekoriert und neben dem die pummelige Nadja noch ungelenker wirkt. Tinks Vater gab es in ihrem Leben nie wirklich und auch hier versucht eine narzisstische Mutter mit Filmkarriere eher sich selbst in Szene zu setzen als die schwierige Tochter zu begleiten. Subtil lotet Oates die Verhältnisse aus, beschreibt Momente der Scham und Niederlagen, Hoffnungslosigkeit, Ängste und Verzweiflung. Und lässt Merissa und Nadja in ihren dunkelsten Momenten Tink erscheinen. Tink, die sich selbst das Leben genommen hat, und ihre Freundinnen ermutigt, sich dem Leben zu stellen.

Es ist keine leichte Lektüre, weil sie in die Untiefen der Seelen führt, in Abgründe blicken lässt und wenig Tröstliches entgegenzusetzen hat. Offenheit und Ehrlichkeit, auch miteinander, gerade unter Freundinnen, wären hilfreich. Und vielleicht zeigt sich da am Ende des Buches ein kleiner Silberstreifen am Horizont. Doch, es lohnt sich, auszuhalten. Es gibt Menschen, die zu einem halten. Wenn das nicht die eigenen Eltern sind, bei denen man diese Unterstützung vielleicht zunächst erwartet, dann muss man sich andere Menschen suchen. Merissa und Nadja wagen einen ersten kleinen, aber mutigen Schritt in diese Richtung. Dass es nicht leicht werden wird, ist klar. Dass es gelingen kann, gehört zu den Möglichkeiten, die dieser Jugendroman andeutet. Oates ist eine der vielseitigsten und bedeutendsten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur, die mehrfach für den Pulitzerpreis nominiert war und seit Jahren zu den Anwärterinnen auf den Nobelpreis für Literatur gehört. In ihren Jugendbüchern macht sie keine Zugeständnisse, sondern mutet den Leserinnen mit der Eindringlichkeit ihrer Geschichten einiges zu. Viele Fragen bleiben offen, Wege deuteten sich nur an – einfach wird nichts, der Glaube an die eigenen Möglichkeiten ist fragil und verletzlich. Es lohnt sich trotzdem, es zu versuchen und nicht einfach aufzugeben.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Joyce Carol Oates: Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe
München: Hanser 2014
270 Seiten. 15,90 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zusammenfinden

Nächster Artikel

Satyrspiele oder Die Jagd ins Bockshorn

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Wenn die eigene Haut zu eng wird

Jugendbuch | Meme McDonald; Boori Monty Pryor: Njunjul Irgendwann einmal ist die Welt, die bisher vertraut und Schutzraum war, klein geworden und zugleich erschreckend groß. Man möchte sich verkriechen und doch hinaus. Auch aus sich selbst will man heraus, die eigene Haut ist zu eng geworden. Meme McDonald und Boori Monty Pryor erzählen in ›Njunjul‹ von einem jungen Murri, einem Indigenen aus dem heutigen Queensland/Australien, der aus dem Kokon schlüpfen muss. Von MAGALI HEISSLER

Worte oder Wörter?

Jugendbuch | Dirk Pope: Still!

Nichts mehr im rechten Winkel. Wenn sich Eltern trennen, leiden auch die Kinder. Und wie sie das verarbeiten, ist sehr unterschiedlich. Mariella zum Beispiel redet nicht mehr. Und das verursacht Probleme, für sie in der Schule, für ihre Mutter, für die Lehrer. Aber so richtig Verständnis hat dafür fast niemand. Außer Stan, der auch nicht redet. Von GEORG PATZER

Liebe dein Chaos!

Jugendbuch | Albert Espinosa: Club der blauen Welt Was würden Sie tun, wenn Sie erfahren, dass Sie nur noch wenige Tage zu leben hätten? Aufgeben und im Krankenhaus im Schmerzmittelrausch seicht vor sich hin vegetieren? Oder fangen Sie an endlich an, das Leben völlig verrückt in vollen Zügen zu genießen? Den jungen Helden dieser Geschichte verschlägt es ins ›Grandhotel‹, dem idyllischsten Ort zum Sterben. Dort ist nichts so, wie er es erwartet hätte. Ein Aufruf, das eigene Lebenschaos zu lieben, bevor es für immer verloren geht. Von MONA KAMPE

Schwebezustand

Jugendbuch | Patrycja Spychalski: Ich würde dich so gerne küssen Flirt, Verliebtheit, Liebe, wer weiß schon so genau, wo das eine anfängt, aufhört und das andere beginnt. Im Handumdrehen ist man hineingerutscht in dieses Gewirr aus mehr oder weniger fassbaren Gefühlen für einen anderen Menschen. Es ist Spielerei und Spiel, plötzlich ganz realistisch, im nächsten Augenblick flüchtig wie ein Windhauch. Manchmal wünscht man sich, der ungewisse Zustand möge für immer anhalten, manchmal will man Entscheidungen und klare Verhältnisse. In ihrem ersten Roman Ich würde dich so gerne küssen versucht Patrycia Spychalski eben diesen Zustand zwischen Träumen und Wachen zu beschreiben.

Außergewöhnliches

Jugendbuch | Diana Sweeney: Am tiefen Grund Auf dem hiesigen Kinder– und Jugendbuchmarkt hat sich in den letzten fünfzehn Jahren ein stilles Phänomen gezeigt, ungewöhnliche Bücher aus Australien und Neuseeland. Strittige Themen, Originalität in Präsentation und Formen, eine ausgezeichnete Sprache, aufregende Illustrationen, andere Sichtweisen auf Menschen bringen ganz besondere Geschichten hervor. So auch bei Diana Sweeneys Debütroman, der eine weitere Perle in der Kette außergewöhnlicher Jugendbücher aus Australien ist. Von MAGALI HEISSLER