Kurzprosa | Paul Auster: Bericht aus dem Inneren
Als erfolgreicher Schriftsteller, Übersetzer, Essayist und Regisseur blickt Paul Auster zurück auf seine frühen Jahre. Wann hat er sich erstmals als eigenständiger Mensch gefühlt? Als Amerikaner? Als werdender Autor? Sein Bericht aus dem Inneren legt offen, wie aus einem fantasievollen, bilderhungrigen kleinen Jungen ein Mann werden konnte, der täglich mehrere Stunden an einem Schreibtisch zubringt, »mit nichts anderem im Sinne, als das Innere seines Schädels zu erforschen«. Von INGEBORG JAISER
16 Romane, einige Filme, zahlreiche Essays, noch mehr Gedichte. Abgeklärte Memoiren würden dem 68jährigen Paul Auster inzwischen gut zu Gesicht stehen. Doch sein Leben hat – nach eigenem Bekunden – erstaunlich wenig Spuren hinterlassen. Ein im Teenie-Alter begonnenes Tagebuch wurde schon nach zwei Tagen wieder beendet. Der Jugendliche bezweifelte schlichtweg den Zweck der Nabelschau und vermisste einen Empfänger, an den er seine Selbstaussagen richten sollte.
Ansonsten sind Austers frühen Jahre (für jemanden, der Mitte des 20. Jahrhunderts geboren wurde) erstaunlich schlecht dokumentiert: »Keine Zeichnungen, keine Klassenfotos aus der Grundschule, keine Zeugnisse, keine Sommerlagerbilder, keine Familienfilme, keine Mannschaftsfotos, keine Briefe von Freunden, Eltern oder Verwandten.« Häufige Umzüge (allein 21 »ständige Wohnsitze« neben unzähligen kurzfristigen) und ein unsteter Lebenswandel ließen nur leichtes Gepäck zu.
Unfälle und Zufälle
Dennoch streut Paul Auster zwischen seine Romane immer wieder Zeugnisse der Introspektion und Versuche einer Autobiographie. Dem zuletzt erschienenen Winterjournal, einer Paraphrase der körperlichen Befindlichkeiten, mit allen Malaisen und Blessuren, Herzattacken und Autounfällen, folgt nun der Bericht aus dem Inneren.
Es ist die tiefgründige Geschichte einer Bewusstwerdung. Sich hauptsächlich auf Erinnerung stützend, skizziert der Autor die geistige Landschaft seiner Kindheit und Jugend, ruft frühe Empfindungen und Träume, Gedanken und Fantasien auf. Wie schon im Winterjournal wird nicht in der Ich-Form erzählt, sondern durchweg die zweite Person Singular benutzt – ein außergewöhnlicher Gestus, der dennoch niemals gestelzt, niemals manieriert wirkt (auch nicht in der deutschen Übersetzung von Werner Schmitz, der geradezu auf Auster abonniert ist).
Langeweile als Quelle innerer Einkehr
Doch was hat Auster zu dem Menschen gemacht, der heute ist? 1947 in Newark als Nachkomme osteuropäischer Einwanderer geboren, wächst der kleine Paul in einer Familie aus der strebsamen Mittelschicht auf, wird jedoch früh von der glücklosen Ehe seiner Eltern geprägt: »Aber die beiden haben es verpfuscht, und dass du diese Katastrophe als Kind miterleben musstest, hat dich zweifellos nach innen getrieben und einen Mann aus dir werden lassen, der den größten Teil seines Lebens allein in einem Zimmer verbracht hat.«
Auster beschreibt sich als fantasiebegabten Jungen, passionierten Leser, leidenschaftlichen Cineasten, sportlichen Baseballspieler – aber auch als Bettnässer, Angsthase, Träumer. »Langeweile darf als Quelle innerer Einkehr und Träumereien nicht außer Acht gelassen werden, Hunderte von Stunden deiner frühen Kindheit, in denen du allein warst, untätig, nichts mit dir anzufangen wusstest […] Gefürchtete Langeweile, endlose einsame Stunden der Leere und der Stille, ganze Vormittage und Nachmittage, wo die Welt aufgehört hatte, um dich zu kreisen, und doch war diese öde Wüste am Ende wichtiger als die meisten Gärten, in denen du spieltest, denn dort hast du dir beigebracht, allein sein zu können, und nur wenn ein Mensch allein ist, kann er seinen Gedanken freien Lauf lassen.«
Einsamkeit des Labyrinths
In dieser Kindheit wurde wohl der Keim gelegt zu den allgegenwärtigen Themen des späteren Schriftstellers: Einsamkeit, Identitätssuche, Abwesenheit des Vaters, »Entwurzelung, Selbstbejahung und unstillbare Neugier«. Schlaglichtartig illuminiert der Bericht aus dem Inneren die prägenden frühen Jahre, driftet dann im zweiten Teil des Buches (»Zwei Schläge auf dem Kopf«) jedoch in die allzu detaillierte, ermüdende Nacherzählung zweier Filme ab, um schließlich eine »Zeitkapsel« zu eröffnen, in der Austers erste Ehefrau Lydia Davis ein umfangreiches Konvolut von Briefen beisteuert, die der Autor als junger Kerl, rastloser Suchender, aufmüpfiger Student und Möchtegern-Beatnik Ende zwischen 1966 und 1969 verfasst hat.
Mangels Bildnissen aus der Kindheit schließt sich im vierten Teil ein »Album« von zeitgeschichtlichen Fotografien an – eher unsichere, unbefriedigende Puzzlesteinchen eines dennoch wachsenden Gesamtbildes. Soviel Unschärfe muss man ertragen in diesem Forschungsbericht aus den Tiefen des Auster-Universums, diesem unwegsamen Pfad durch die Einsamkeit des Labyrinths.
Titelangaben
Paul Auster: Bericht aus dem Inneren
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Reinbek: Rowohlt 2014
359 Seiten. 19,95 Euro
Reinschauen
Ingeborg Jaiser über Paul Auster in TITEL kulturmagazin