Die Industrialisierung, sagte Farb, habe die Welt verändert.
Jeder Tag, sagte Wette, jeder Tag verändere die Welt.
Annika blätterte in einem Reisemagazin.
Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.
Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne.
Farb verteilte die Sahne gleichmäßig über seinen Kuchen und strich sie langsam und sorgfältig glatt.
Ob es vor der Industrialisierung etwas wie Freizeit gegeben habe, fragte Annika.
Schon, sagte Wette, wohlhabende Bürger und Fürsten seien auf die Jagd gegangen, das könne man als Freizeit verstehen.
Nein, das überzeuge nicht, sagte Farb, Freizeit existiere ja komplementär zu Arbeit, und regelmäßige Arbeit gebe es seit der Industrialisierung; daß der Fürst auf Jagd gegangen sei, habe er nicht als Freizeit verstanden, und ebenso könne man Urlaub erst nehmen, seitdem es regelmäßige Arbeit gebe, die Industrialisierung, wiederholte er, habe die Welt verändert, Freizeit sei lohnarbeitsfreie Zeit.
In dieser arbeitsfreien Zeit habe sich nach und nach eine Freizeitindustrie herausgebildet, der Mensch, sagte Wette, sei gewissermaßen kolonisiert worden, den neuen Verhältnissen angepaßt, sagte Wette, zu hundert Prozent fremdbestimmt.
Das könne nur eingeschränkt gelten, sagte Farb, denn der Mensch nutze seine Freizeit für eigene Zwecke, also selbstbestimmt.
Ob sie stritten, fragte Annika.
Tilman nahm sich einen Marmorkeks, auch die Marmorkekse, sagte er, seien kaum noch im Handel erhältlich.
Farb aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.
Schwierig, sagte Tilman, und nein, das sei kein Streit, sondern beides sei wahrgenommene Realität, nur eben aus verschiedenen Blickwinkeln.
Müsse man das verstehen, fragte sich Annika.
Das Fenster für Spaß und Vergnügen schließe sich, sagte Tilman, der Mensch müsse lernen, vorsorglich zu handeln, und nein, es gehe nicht darum, etwas zu verbieten, sondern aus wohlüberlegten Gründen auf etwas zu verzichten.
Zum Beispiel, fragte Farb.
Auf das Rauchen zum Beispiel, sagte Tilman, man habe gute Gründe gehabt, und der Zigarettenkonsum sei erheblich reduziert worden.
Ohne Verbot, sagte Farb, ohne äußeren Zwang, sondern der Staat habe gewissermaßen eine mediale Kampagne initiiert, die Akzeptanz des Rauchens schlechtzureden, zu tabuisieren, und das sei gelungen.
Vorbildlich, sagte Wette, doch daß sich das für Alkohol wiederholen lasse, sei zweifelhaft.
Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen.
Der Staat müsse weitaus energischer vorsorglich handeln, sagte sie, die destruktiven Kräfte seien zäh, und mit wortreichen Erklärungen ließen sie sich nicht zügeln, der Staat müsse Härte beweisen, unnachgiebige Härte, vorsorglich handeln sei eine Frage des Überlebens.
Das betreffe auch größere Zusammenhänge, sagte Tilman, und die Frage stelle sich, wie angesichts eines aus den gewohnten Grenzen ausbrechenden Klimas vorsorglich gehandelt werden könne, so daß die Lebensgrundlagen des Menschen weitgehend erhalten blieben – Feuersbrünste, Überflutungen, Orkane, die Natur gebärde sich aggressiv wie selten.
Das Klima verändere sich rasant, sagte Wette, es steigere sich zu Höchstleistungen, lasse seine Muskeln spielen, Florida erlebte binnen weniger Tage zwei gewaltige Hurrikane, der nächste bereite sich vor, rette sich, wer kann – wie könne man unter diesen Umständen noch vorsorglich handeln, die Schäden von ›Helene‹ seien nicht bewältigt, und schon tobe ›Milton‹ über dem Festland.
Der Mensch sei aggressiv, sagte Farb, er treibe Raubbau, er plündere den Planeten, und nun, das hätte er nicht gedacht, stoße er an Grenzen.
Annika warf einen Blick zum Gohliser Schlößchen.
Tilman rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.
Farb aß seine Pflaumenschnitte und überlegte, ob er dazu nicht lieber eine Tasse Kaffee tränke, genieße man Yin Zhen nicht sowieso besser ohne Pflaumenschnitte.
Wette schwieg, er hätte große Lust, Doppelkopf zu spielen, niemand könne sich pausenlos den Problemen der Welt aussetzen.
Wir seien mittendrin, sagte Tilman, und es sei zu spät, vorsorglich handeln und Schäden vermeiden zu wollen – die Natur schüttele sich und vernichte Lebensgrundlagen, unwiderruflich.
Vorsorglich handeln, wiederholte Farb, was bleibe zu tun, wer einen klaren Kopf bewahre, müsse sich den Tatsachen stellen, wie schwierig das auch sei, niemand könne nach jedem Hurrikan seine Existenz neu aufbauen, unmöglich, man müsse sich an den Gedanken gewöhnen, daß das Land in weiten Teilen unbewohnbar werde, vorsorglich handeln bedeute, Florida aufzugeben.