Reduzierte Sezierung

Comic | Gipi: MSGL – Mein schlecht gezeichnetes Leben

In ›MSGL – Mein schlecht gezeichnetes Leben‹ lässt Gipi tief in seine bewegte Biographie blicken – mit Bildern, da widerspricht CHRISTIAN NEUBERT dem italienischen Comic-Künstler, die gar nicht mal so schlecht sind.

msglIn den Achtzigern hießen Helden Schwarzenegger und schossen scharf. In den Neunzigern hießen sie Cobain und kultivierten ihre Selbstzweifel. Postmoderne Helden brauchen vor allem Bodenständigkeit. Entsprechend sind Helden der Gegenwart Leute wie Du und ich, Menschen, denen man in der Nachbarschaft begegnet. Sie sind ›Biggest Losers‹ oder Drittplatzierte von Castingshows, ausgezeichnet durch Unzulänglichkeiten. Die kennt auch Gipi. Seine Jugendjahre sind voll davon. In ›MSGL – Mein schlecht gezeichnetes Leben‹ führt der italienische Comickünstler seine Makel vor, ohne sich dabei selbst vorzuführen.

Gipis Unzulänglichkeiten sind nicht diese oberflächlichen, leicht erklärten wie die der Casting-Helden. Sie sind drastische Folgen der Drogencocktails, die im Freundeskreis seiner Jugend angesagt waren. Ein Horrortrip wollte nicht aufhören, fünf qualvolle Monate lang. Danach blieben Panikattacken, zyklothyme Depression, Wahnvorstellungen, alles, wovon man so gehört hat und was man besser nie kennenlernt.

Voll erwischt

Die Horrortrips dämonisch zu bebildern ist Gipis Sache nicht. Er setzt lakonischen Spott anstelle einer direkten Konfrontation, will nicht darüber reden, »das bringt nichts«, erklärt er an einer Stelle einem der Ärzte, die er immer wieder aufsuchte. Sei es aufgrund der mysteriösen Zahnschmerzen. Oder aufgrund der Potenzprobleme, die ihn zum »Sex-Spasti« machten, zu einem ›Bobby Brown‹, analog zum Frank-Zappa-Titel; sein Schwager brachte ihm Musik und Kunst bei. Was er über Liebe weiß, brachte ihm sein Kindheitsfreund Alfredo bei: Der 1963 als Gian Alfonso Pacinotti geborene Künstler himmelte ihn an, diesen Jungen, der alles so viel besser konnte, der ihn demütigte und ständig versetzte.

Abb: Reprodukt
Abb: Reprodukt
Weiteres Wissen über die Liebe, ihren hellen Schein, aber mehr noch über ihr düsteres Drumherum lehrte ihm ein besonderer Fund: ein Comicheft. Und jener »Mann im Dunkeln«, wohl eine albtraumhafte Manifestation verdrängter Obsessionen und Ängste. Vielleicht ist jener der Grund, warum Gipi heute von sich sagt, er könne keine Liebesgeschichten erzählen? Warum er eine Piratengeschichte in seine Autobiographie einflicht, um diesbezüglich nicht konkret werden zu müssen?

Vom Schlechten gezeichnet

Nun heißt diese Comic-Autobiographie auch noch ›Mein schlecht gezeichnetes Leben‹. Dabei ist Gipis Zeichenkunst gar nicht unzulänglich. Er zeichnet einfache Bilder von großer Expressivität – so, dass jeder hinter seinen Figuren stecken könnte. Man soll sie kennen können, nicht nur erkennen. Auch wenn die Abgründe, in die er blicken lässt, oft unüberbrückbar erscheinen.

An dem Gipi, an dem er seine Leser in ›MSGL‹ teilhaben lässt, bleibt vieles vage, abstrakt, vermutlich. Dadurch wird er grotesk, bemitleidenswert, auch lustig – und auf diffuse Weise sehr lebendig. Der Band liest sich, als habe Gottfried Benn oder Kurt Schwitters einen Comic gemacht. Serienreif ist das nicht. Vielleicht ist es das, was der unzulängliche Gipi all jenen, die heute Held sein wollen, voraus hat.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Gipi: MSGL – Mein Schlecht Gezeichnetes Leben
La Mia Vita Disegnata Male. Aus dem Italienischen von Giovanni Peduto
Berlin: Reprodukt 2015
144 Seiten, 20 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

New Orleans im Ausnahmezustand

Nächster Artikel

Staatsbürger – Säkularist – Muslim

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Easy Going

Comic | Tommi Musturi: Sozusagen Samuel Vor sieben Jahren erschien bei ›Reprodukt‹ der Comic ›Unterwegs mit Samuel‹. Nun kommt der Folgeband ›Sozusagen Samuel‹, der nahtlos an seinen Vorgänger anknüpft. In abstrakter Form erzählt er ohne Worte vom nackten Leben in knalligen Farben. Von CHRISTIAN NEUBERT

We need to talk about Fight Club

Comic | Chuck Palahniuk (Autor), Cameron Stewart (Zeichner): Fight Club 2 – Buch 1 Wer ›Fight Club‹ kennt, wird sich fragen, wie eine Fortsetzung dieses Stoffes überhaupt denkbar ist. Wer ›Fight Club‹ nicht kennt, sollte augenblicklich aufhören, diesen Text und lesen und stattdessen seine Bildungslücke füllen. Danach wird er sich vermutlich dieselben Fragen stellen, wie BORIS KUNZ: Verkraftet diese Story eine Fortsetzung?

Bis zur Unsichtbarkeit

Comic | Frankfurter Buchmesse 2015 Auf der Frankfurter Buchmesse hat sich ANDREAS ALT umgesehen, wie immer mit besonderem Augenmerk auf Comics. Dieser in den vergangenen gut zehn Jahren sehr auffällige Bereich schrumpft gerade so sehr, dass er durch die Ritze zu fallen droht.

Pin-Up-Krimi

Comic | Mirka Andolfo, Gianluca Papi: Contronatura Der erste Band von Mirka Andolfos Comicreihe ›Contronatura‹ entwirft das Szenario eines von anthropomorphen Tieren bevölkerten Überwachungsstaats, der die Reproduktion seiner Spezies forciert – und anhand seiner schweinisch-niedlichen Heldin einen Verschwörungskrimi zwischen Superhelden-, Manga- und Pin-Up-Optik lostritt. Von CHRISTIAN NEUBERT

Düstere Aussichten in Sobokolor

Comic | Bela Sobottke: Terror 3000

Comic-Künstler Bela Sobottke hat mit ›Terror 3000‹ ein neues Album bei Gringo Comics vorgelegt. Mit diesem kehrt er dem Italowestern erzählerisch den Rücken – und wendet sich stattdessen der Endzeit zu. Wobei seine knapp 1000 Jahre in der Zukunft angesiedelte Welt manchmal gar nicht weit weg erscheint. Von CHRISTIAN NEUBERT