Kinderbuch | Nathalie Kuperman: Wer zweimal lügt
Es gibt Situationen, in denen nur der Selbstschutz zählt. Und schon hat man gelogen. »Nicht so schlimm!«, mag manche denken. War ja nur einmal. Lügen allerdings haben die Eigenheit, dass sie nicht gern allein bleiben. Im Handumdrehen folgt die zweite, dann die dritte. Ob man sich von der unangenehmen Gesellschaft wieder befreien kann? Nathalie Kuperman erzählt von Clara, die zu ihrem Entsetzen zu einer echten Lügenbaroness mutiert. Von MAGALI HEISSLER
Es wäre besser gewesen, hätte Clara die Geschichte vom ›Kleinen Däumling‹ gelesen, wie ihre Lehrerin es verlangt hat. Aber Clara hatte keine Lust dazu. Und nun soll sie einen Aufsatz über das Märchen schreiben. Da sie die Geschichte nicht kennt, kann sie am Ende der Stunde nur ein leeres Blatt abgeben. Die Note sechs ist ihr sicher. Was werden die Eltern sagen?
Natürlich merkt Mama, dass mit Clara etwas nicht stimmt und schon ist es passiert. Clara lügt. Aber Mama ist nicht die Einzige, die wissen möchte, was los war. Auch die Lehrerin fragt. Ihr bindet Clara vor lauter Schreck einen richtig dicken Bären auf. Die eine erlogene Geschichte vermischt sich in Windeseile mit der anderen. Plötzlich ist nicht nur Clara, sondern auch die beste Freundin, beider Eltern und die Lehrerin in dem Lügengewebe verwickelt. Clara weiß nicht mehr ein noch aus. Jedes Wort, das sie sagt, scheint sich in einen neuen Lügenfaden zu verwandeln. Streit unter den Freundinnen bleibt nicht aus. Claras Leben versinkt im Unglück. Ob es einen Ausweg gibt?
Dichtes Gewebe
Man kann Claras Geschichte als eine einfache Warnung vor Lügen lesen, eine hübsche Aneinanderreihung immer bedenklicher werdender Situationen, die scheinbar nur durch Lügen bewältigt werden können. Am Ende gibt es eine überraschende Wendung. Das macht großen Spaß, hieße aber, diese Geschichte zu unterschätzen.
Kuperman, eine erfahrene Autorin, hat tatsächlich ein raffiniert gebautes kleines Werk vorgelegt. Wie Claras Lügenfäden ziehen sich weitere Fäden durch ein Gewebe, dessen Muster sich am Ende als überraschend komplex erweist. Clara erzählt selbst, was passiert. Ihre Kinderstimme, forsch zuerst und selbstbewusst, für jede Ausrede offen, wird im Lauf der Zeit immer ängstlicher und zweifelnder. Sie weiß genau, dass sie falsch gehandelt hat. Eigentlich will sie ihren Eltern nicht wehtun. Anna, der besten Freundin, auch nicht. Trotzdem verletzt sie sie. Damit macht die ca. Neunjährige auch die Erfahrung, wie schwierig das Leben innerhalb einer Gruppe ist, wenn man möglichst viele Interessen berücksichtigen will, einschließlich der eigenen, versteht sich. So gesehen ist Claras Geschichte auch die Geschichte von den ersten Schritten eines Kinds in die Welt, ungeschützt, auf sich gestellt und stets bösem Scheitern ausgesetzt.
Clara und mit ihr die kleinen Leserinnen erkennen, dass nicht nur sie lügen, sondern auch andere Menschen Dinge verschweigen – und zwar aus den gleichen komplizierten Gründen. Aus Selbstschutz, aus Eigennutz, um andere vor etwas zu bewahren. Es gibt zahlreiche Anregungen, über Lügen und ihre Ursachen nachzudenken. Und darüber, dass nicht nur Lügen, sondern auch die Wahrheit gewaltige Folgen hat. Die Wendung am Ende ist demnach nicht bloß ein erzählerischer Gag, sondern wesentlich, um das ganze komplizierte Gestrick erkennen zu lassen.
Quicklebendig
Kuperman skizziert ihre Figuren nur. Lebendig werden sie durch Claras Stimme. Allerdings muss man aufpassen, denn Clara ist keine ganz zuverlässige Erzählerin. Um das zu verstehen, brauchen kleine Leserinnen schon ein wenig Erfahrung. Clara sagt das Eine und macht das Andere. Was sehr deutlich zum Ausdruck kommt, ist, wie liebebedürftig sie ist. Wie gern sie es harmonisch hätte und wie gern, dass alles bleibt, wie es ist. Aber Kinder werden größer, nicht immer und unbedingt zum eigenen Vergnügen. Clara belügt sich auch ganz gern selbst.
Angesprochen wird zudem die Frage des Gutmeinens seitens Erwachsener. Sowohl Claras Eltern als auch ihre Lehrerin wollen dem Kind Gutes tun. Allerdings fühlt sich das für Clara nicht gut an. Der resultierende Interessenkonflikt löst eine recht plastisch geschilderte Verwirrung aus und ist ein überzeugender Anstoß zum Nachdenken nicht nur für die kleinen Leserinnen.
Wie lebendig die Figuren sind, spiegelt sich auch in den vielen schwarz-weißen Zeichnungen von Claude K. Dubois. Die Kindergesichter mit ihren Knubbelnasen, die an Tierschnäuzchen erinnern, drücken die jeweilige Grundstimmung aus, während die Körperhaltung der kleinen Gestalten die emotionalen Feinheiten liefern. Ein Blick genügt und man weiß genau, dass Clara nicht nur erschrocken, sondern wie erschrocken sie ist. Wie verwirrt Anna, wie unsicher Mama und Papa und wie hilfsbereit die Lehrerin. Und natürlich, wie sehr sie sich liebhaben am Ende. Allesamt.
Übersetzt ist es glatt, es zeigt sich wieder einmal, wie unverbraucht klares Deutsch klingt. Nur am Anfang gibt es einen irritierenden Holperer. Sehr geschickt ist die Wahl des ›Kleinen Däumlings‹ als Lektüre, da das Buch des Originals hier kaum bekannt ist. Warum der Namen der Hauptfigur nicht beibehalten wurde – was ist falsch an Clarisse? -, französische Nachnamen, die im Deutschen seltsam klingen, aber schon, gehört zu den unlösbaren Rätseln der hiesigen Verlagswelt.
Eine Geschichte voller quicklebendiger Figuren, lustig, spannend und mit einem eigenen Denkansatz zum Thema Lügen.
Titelangaben
Nathalie Kuperman: Wer zweimal lügt
Illustriert von Claude Duboi
(Mensonges et verité, 2007). Aus dem Französischen übersetzt von Julia Süßbrich
Köln: Boje 2015
60 Seiten. 10 Euro
Kinderbuch ab 7 Jahren
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