Jugendbuch | Irina Korschunow: Die Sache mit Christoph
Spätestens in der zweiten Phase der Teenagerzeit erwischt sie uns, die Frage nach dem Sinn des Lebens. Für manche ist es nur ein Fingerstreifen, das man mit einem Achselzucken abtun oder einem flotten Spruch wieder ins Kästchen packen kann. Andere trifft sie so hart, dass es Wunden schlägt. Die, die daran leiden, erholen sich unter Umständen nie davon. Wie geht man als junger Mensch mit der Frage nach dem Sinn um? Irina Korschunow hat vor vielen Jahren ein Buch darüber geschrieben. Es klingt noch wie neu. Von MAGALI HEISSLER
Christoph ist tot, die Beerdigung steht an. Sein bester Freund Martin ist einer der Sargträger, doch noch bevor die Trauerfeier in der Kirche zu Ende ist, läuft Martin davon. Er erträgt die Feier nicht, nicht die Trauergäste, den Friedhof, das offene Grab. In den nächsten Tagen aber wird ihm klar, dass er viel mehr nicht erträgt als die Beerdigung. Obwohl er sich dagegen wehrt, weiß er, dass er sich all dem stellen muss, was ihre Freundschaft war und was in dem vergangenen Schuljahr passierte. Dahinter steht noch eine ganz andere, wirklich brennende Frage. War Christophs Tod ein Unfall oder eine Selbsttötung?
Martin macht sich auf, der Sache mit Christoph auf den Grund zu gehen. Es wird ein langer Weg und er wird wehtun.
Magic moments oder bat out of hell?
Korschunow arbeitet in dieser kurzen Geschichte mit nur wenigen handelnden Personen. Jede ist so eigen und dazu so scharf charakterisiert, dass sie einer beim Lesen fast unangenehm klar vor Augen steht. Auf äußere Beschreibungen verzichtet sie fast völlig. Wenn sie sie liefert, kommen sie vor allem aus Martins Augen. Wie seine Erzählstimme bestimmt seine Wahrnehmung die Geschichte. Die Paarung Martin-Christoph beeinflusst von Anfang an, was man beim Lesen mitnimmt. Wer sind die beiden, der positive und negative Pol einer Einstellung zur Welt? Die helle und die dunkle Seite eines einzigen jungen Menschen und welcher davon wird ins Erwachsenenalter schaffen?
Die Freundschaft der beiden Sechzehn-, Siebzehnjährigen wächst langsam. Sie wechseln ein paar Worte, kommen ins Gespräch, bleiben dabei. Ihr Verhältnis ändert sich unmerklich, aber stetig. Aus dem klugen, scharfsichtigen Christoph, unerschrocken, sarkastisch, musikalisch sehr begabt, hochsensibel, wird ein Zyniker, dessen wachsende Härte ein tief verletztes Gefühlsleben verbirgt. Die von Martin so bewunderte Führungsgestalt entwickelt sich zu einem Jungen ‚aus Glas‘, wie ein Bekannter einmal feststellt. Ob Martin Christoph vor dem Zerbrechen hätte schützen können oder sogar müssen, ist eine der Fragen, die ihn umtreiben.
Christoph ist ein Teenager, der auch aus heutiger Sicht nur schwer zu ertragen ist. Er leidet unter den harten Seiten des Lebens so sehr, dass er bald unfähig ist, ihnen auch nur das Geringste entgegenzusetzen. Seine Direktheit wird Kompromisslosigkeit, die ihm jeden Ausweg verschließt und schnell Feinde macht. Auch eine erste Liebe zu einer Mitschülerin wird keine rettende Insel, sondern eher ein Balken im stürmischen Meer, an den sich Christoph mit schwindenden Kräften klammert. So komplexe Charaktere werden einem jungen Publikum selten vorgesetzt, noch seltener in dieser überzeugenden Schroffheit. Das gilt auch für die Nebenfiguren, selbst wenn diese eher skizziert sind. Christoph allerdings bildet das Zentrum. Auch erwachsene Leserinnen haben es nicht leicht mit dieser bat out of hell.
Die Glücksmomente sind dafür umso intensiver. Eine Tramperreise nach Wien – die Schilderung lässt überdies berührend-nostalgisch die späten 1970er Jahre lebendig werden – wird zur fast magischen Reise, bei der Freundschaft, ein Vorgeschmack auf die weite Welt mit ihren wunderbaren Möglichkeiten, Natur und Musik zu einer Ahnung vom kleinen Paradies auf Erden verschmelzen.
Brutale Welt, brutale Menschen
Die schwierigen und sperrigen Figuren agieren in einer Welt, die sich vor ihrem noch im besten Sinn naiven Blick als rundum brutal entpuppt. Das alte Dorf, das Neubaugebiet im Einzugsgebiet Münchens, die Schule – die ganze ländliche Gegend ist nur ein Postkartenidyll. Die Realität ist entsetzlich. Klatsch, Bosheit, Gewalttätigkeiten, vom Verprügeln von Ehefrauen bis hin zur Hetzjagd auf Obdachlose, lauern und brechen sich plötzlich Bahn. Sehr klug aber verweist Korschunow darauf, dass Gefahr und Tod überall lauern und auch Opfer von Gewalt keineswegs die besseren Menschen sind. Martins Weg führt zu allem, was menschliches Leben ausmacht, im Bösen wie im Guten. Dabei geht es Korschunow nicht um blindes Akzeptieren, sondern um den differenzierten Blick.
Sie hat zur Illustration zwei zentrale Themen gewählt, beide machen dieses Buch unverändert aktuell. Das eine ist die wachsende Macht des Gelds, die sich ins Leben frisst und verändert, was sie berührt. Nicht zum Guten, wenn man nicht scharf aufpasst, lautet das Urteil. Ende der 1970er noch sozialkritisch gesehen, später als sozialromantisch belächelt, erweist es sich, liest man das Buch fast vierzig Jahre später, nur als realistisch. Das ist eine der erschreckenden Erkenntnisse, die die Lektüre auslöst.
Zum zweiten geht es in diesem Roman, so knapp er ist, keineswegs nur um Jugendliche, sondern ebenso um Erwachsene. Schließlich sind sie der Zustand, der auf junge Menschen zukommt. Korschunow porträtiert die Erwachsenen schonungslos und unerbittlich, gleich, ob Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, die Leute im Dorf. Zyniker und Desillusionierte, Geldgierige, Verteidigerinnen von Leistung als Lebensprinzip und von Gelderwerb. Feige, heuchlerisch, duckmäuserisch schlagen sie Schwache, um sich stark zu fühlen.
Doch das ist nicht alles, denn in dieser Schonungslosigkeit ist das eben Christophs Sichtweise. Martin muss herausfinden, ob er sie teilt, sich wegduckt oder tatsächlich eine andere entwickeln kann. Sein Weg fort von der schrecklichen Beerdigung in die Vergangenheit mit Christoph führt ihn auf einen holprigen Weg zu sich selbst. Der endet, einige Tage später, an einem blumengeschmückten Grab.
Eine Lösung der Kernfrage gibt es nicht. Das wird manche Leserinnen und Leser beunruhigen, ärgern, abschrecken, gerade heute in der herrschenden Kultur der allseitigen Beruhigung. Aber es ist richtig. Leben bedeutet Fragen stellen. Antworten sind kurzlebig, sie helfen immer nur weiter bis zur nächsten Frage. Wer aufhört zu fragen, hat nichts vom Leben verstanden.
Titelangaben
Irina Korschunow: Die Sache mit Christoph
München: dtv 2016
158 Seiten. 7,95 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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