Jugendbuch | Anne Freytag: Den Mund voll ungesagter Dinge
Es gibt so viele Bücher für junge Leserinnen, dass man sich fragt, warum immer noch eines mehr geschrieben werden muss. Steht wirklich etwas darin, das das neue Buch anders macht? Im vorliegenden Fall kann man die Frage mit einem kategorischen Jein beantworten. Von MAGALI HEISSLER
Sophie ist 17 und kuschelt am liebsten mit dem Gegebenen. Das hat auch unangenehme Seiten, zum Beispiel hat ihre Mutter sie gleich nach der Geburt verlassen. Sophie war klar, dass ihr Vater sich wieder verliebt und eine neue Familie haben will. Dass der Zeitpunkt jetzt ist und sie deswegen nach München umziehen muss, löst bei ihr aber nur Widerstand aus. In ihrem neuen Leben wird ihr nichts und niemand gefallen, das ist mal sicher!
Sophie ist alles andere als eine gefestigte Persönlichkeit, ihr Trotz nur Fassade. Der Putz bröckelt und statt der Abschottung lässt sie sich auf Halbbrüder, Hund, Stiefmutter und neue Freunde ein. Vor allem aber auf Alex, das Mädchen aus dem Nachbarhaus.
Für sie empfindet Sophie vom ersten Moment an etwas Besonderes. Aber Alex ist mit Clemens zusammen und für Sophie bietet sich Niklas an. Etwas stimmt mit ihren Gefühlen nicht. Nur was? Und was bedeutet das?
Wirrwarr, konventionell
Anne Freytag erzählt eine Geschichte von inneren Wirren, die typisch sind für junge Menschen. Sie erzählt diese allerdings sowohl im Zuschnitt auf ihr Publikum als auch vom dahinterliegenden rundum konventionellen Blickwinkel aus. Die Leserin muss sich durch zahlreiche Nichtigkeiten, Lappalien und einer Menge Schwulst ackern, die die Geschichte aufblähen. Wenn die Kapitelüberschrift auf Seite 379 verkündet Sie haben Ihr Ziel (fast) erreicht ist man zu erschöpft, um sich darüber noch freuen zu können. Woher das Gesetz stammt, dass man junge Menschen heutzutage als Autorin erbarmungslos zutexten muss, ist ein Rätsel. Handwerklich oder gar literarisch ist es sicher nicht zu lösen. Sowohl die Autorin als auch ihre Figuren reden. Und reden. Und reden. Dass sie etwas sagen, kommt dabei eher selten vor.
Die wirklich bewundernswerte Leistung ist, dass in all dem Wust eine kantige Hauptfigur entsteht, verwöhnt, um sich selbst kreisend, unsicher, viel zu oft das Falsche tuend, ängstlich und nicht besonders vertrauenswürdig. Zugleich rührend hilflos, im Herzen freundlich und vor allem auf der Suche nach Zuneigung. Sophie wird man so schnell nicht vergessen, hat man sie einmal getroffen. Sie ist eine Herausforderung für die Leserin.
Die übrigen Figuren treten hinter ihr zurück, selbst Alex. Hier herrschen Standards und Konventionen, die einen sind zu lieb, zu freundlich bis hin zu süßlich-perfekt, die anderen abgefeimt. Viele Dialoge bleiben an der Oberfläche. Die Nennung von Markennamen, Schlagern, Serien und Filme ersetzt die Schöpfung einer fiktionalen Welt durch vorgeblich Vertrautes. Bestimmte Produkte sind Ausdruck bestimmter Gefühle und wer wie vorgeschrieben mit Freude, Tränen, Zorn oder Liebe reagiert, gehört dazu. Reicht das nicht, folgt der Schwulst. Wenn es jemandem schlecht geht, regnet und stürmt es, geht es gut, wehen sanfte Brisen und das helle Licht leuchtet strahlend, um einmal die vorherrschenden Formulierungskünste zusammenzufassen.
Eine Sprache finden
Abgesehen von der ausgezeichnet entworfenen Hauptfigur hat dieser Jugendroman doch tatsächlich ein Thema. Das ist im Unterschied zu dem, was einem die Autorin im Schreibrausch vorgaukelt, weder das glückliche Familienleben noch eine Coming Out-Geschichte. Es geht um die Schwierigkeit, die eigenen Gefühle kennenzulernen, sich ihnen zu stellen, vor allem aber, ihnen durch Worte Ausdruck zu verleihen. Dieses Thema ist der Grund dafür, dass Salingers Holden Caulfield eine zentrale Rolle in der Beziehung zwischen Sophie und Alex spielt. Auch Holden ist jemand, der sich abmüht, seine Gefühle mittels Worten einzufangen und mitzuteilen.
Die wenigen Stellen in Freytags Buch, an denen es darum geht, wie man miteinander spricht, was gesagt werden kann, was nicht und wie oft Worte fehlen, wenn es darauf ankäme, gehören zu den ganz wichtigen. Es ist schade, dass sie wieder und wieder vom Wortgestrüpp der Nichtigkeiten überwuchert werden.
Illustriert wird das erste große Thema, eine passende Sprache füreinander zu finden, mittels des zweiten Themas: Sex. Offen werden Sexszenen aufgeführt und beschrieben. Sie sind kein Selbstzweck, sondern verdeutlichen Beziehungen zwischen den Figuren und zwar so vielschichtig in ihrer Bedeutung für das Ganze, dass man sich mitunter fragt, ob hier zwei Autorinnen am Werk waren, die eine für die Plapperei, die andere für das, was dieses Buch eigentlich ausmacht.
Mit der Wahl von Sex als Thema trifft das Buch eine Kernfrage von Jugendlichen. Die Antworten sind vielfältig und sehr interessant. Sie reichen von der Frage der Etikette beim Gespräch über Sex, je nachdem, ob man mit jemandem des gleichen Geschlechts spricht oder nicht, über Romantisches, Erotisches bis hin zu Unangenehmem. Die Szene in einer Toilettenkabine, die einen traurigen Höhepunkt der Handlung darstellt, ist derart realistisch ekelhaft gelungen, dass es jede, die im Partyrausch vielleicht sentimentale Anwandlungen in dieser Richtung hegen mag, umgehend hart auf den Boden der Realität zurückholt.
Das Ende ist rührend und recht kuschelig, aber gerade noch unabgeschlossen genug, dass nichts mit Sirup übergossen wird. Nicht allzu viel Sirup, zumindest, denn die Geschichte ist ja ein Beispiel für ein gelungenes Jein.
Anne Freytag: Den Mund voll ungesagter Dinge
395 S. 14,99 Euro
München: Heyne 2017
Jugendbuch ab 15 Jahren
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