Wenn ein Okapi im Traum erscheint

Roman | Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann

»Ich wollte dich umbringen, Selma«, sagte Palm leise. »Wegen deiner Träume. Ich habe gedacht, dass dann keiner mehr sterben würde«, heißt es im dritten Roman ›Was man von hier aus sehen kann‹ der 44-jährigen Mariana Leky, der sich zwischen modernem Märchen und Schauergeschichte bewegt. Von PETER MOHR

Leky - Was man von hier aus sehen kannJene Selma, die Großmutter der Ich-Erzählerin Luise, wird von ungewöhnlichen Träumen heimgesucht, in denen ihr ein Okapi erscheint. So weit, so halbwegs normal. Doch Autorin Mariana Leky, die abwechselnd in Berlin und in ihrer Geburtsstadt Köln lebt, liebt es besonders skurril und lässt nach Selmas Träumen stets einen Dorfbewohner sterben. Diese eigenwillige Mischung aus Aberglaube, provinziellem Hinterwäldlertum und mystisch anmutenden Prophezeiungen erfordert vom Leser die Bereitschaft, sich der strammen Fesseln der Rationalität und Logik zu entledigen und sich auf diesen Parforceritt durch eine moderne Fabelwelt einzulassen.

Die Handlung spielt zwischen 1983 und 2005 in einem kleinen Dorf im Westerwald. Ich-Erzählerin Luise ist (so wie ihre geistige Schöpferin) zu Beginn der Handlung zehn Jahre alt und schwadroniert auf eine ziemlich penetrant altkluge Art und Weise über »damals«. Wieder werden dem Leser einige Zugeständnisse abverlangt, denn die kleine, überschlaue Luise strapaziert das Nervenkostüm ziemlich arg.

Zugeständnisse

Es wimmelt im Dorf von schrägen Figuren, jeder kennt jeden, mit all seinen Stärken und Schwächen. Trotz aller Marotten und Skurrilitäten: Auch in Mariana Lekys arrangiertem Mikrokosmos dominieren Liebe und Tod den Alltag. Gleich drei unglückliche, komplizierte Liebesgeschichten werden erzählerisch beleuchtet. Luises Eltern haben sich getrennt, den Vater zog das Fernweh aus dem Dorf, die Mutter, eine einfältige Blumenhändlerin, sucht ihr bescheidenes Glück bei einem Liebhaber.

Luise selbst lernt im zweiten Teil des Romans einen japanischen Buddhisten kennen, der aus Hessen stammt und in einer Franziskanerkutte auftaucht. Sie fühlen sich füreinander bestimmt, wissen aber um die Aussichtslosigkeit ihrer inneren Wünsche. Sie schreiben sich Briefe, wollen die Beziehung mit Worten aufrechterhalten, und nach zehn Jahren kommt es zu einem Wiedersehen mit Frederik im Dorf.

Das liest sich tatsächlich alles wie ein Märchen, fernab der Realität, ist aber von Mariana Leky so wunderschön erzählt, dass man sich leicht von dieser Träumerei gefangen nehmen lässt. Auch Selma sorgt für emotionale Irrungen und Wirrungen, denn der ortsansässige Optiker schafft es nicht, ihr seine Gefühle zu offenbaren, obwohl das gesamte Dorf »das Geheimnis« kennt.

Wie im Märchen

Dieser Optiker ist eine der vielen faszinierenden Nebenfiguren des Romans – eine Art Dorfphilosoph mit großer Affinität zur Selbstironie. Manchmal trägt er in seinem Ein-Mann-Betrieb eine Plakette mit der Aufschrift »Mitarbeiter des Monats«. Dann wieder sägt er einen Hochsitz an und begibt sich wenig später mit großem Eifer an die Reparatur. Mariana Leky lässt hier die Uhren ganz bewusst anders ticken.

Die Angst vor dem Tod potenziert sich bei den Dorfbewohnern immer dann, wenn Großmutter Selma nachts wieder einmal ein Okapi erschien. Die Stunden und Tage der Ungewissheit lösen heftige innere Kämpfe aus. Lebensfilme rasen im Eilzugtempo durch die Köpfe vieler Dorfbewohner. »Er war sicher, dass der Tod ihm das Leben nicht entreißen, sondern behutsam aus der Hand nehmen würde«, mutmaßt einer der Dorfbewohner.

Spaziergang durch Schilda

Mariana Lekys verspielter Roman konfrontiert uns auf amüsante Weise, gerade so, als wenn wir Till Eulenspiegel auf einem Spaziergang durch Schilda begleiten, mit den großen Themen unglückliche Liebe und Todesangst. Das ist mutig und auch faszinierend, aber gewiss nicht jedermanns Sache.

| PETER MOHR

Titelangaben
Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann
Köln: Dumont Verlag 2017
315 Seiten, 20 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die ganz große Liebe

Nächster Artikel

Aus sich herausgehen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Überleben in Kanadas Wäldern

Roman | Ulla Scheler: Acht Wölfe

Es sind acht abenteuerlustige junge Menschen – vier Frauen und vier Männer –, die sich im Spätherbst zu einer dreiwöchigen Wanderung durch den im Nordwesten Kanadas gelegenen Wood Buffalo Nationalpark aufmachen. Man ist aus unterschiedlichen Gründen unterwegs. Die reichen von Abenteuerlust über die Verarbeitung persönlicher Traumata bis dahin, dass der mehrwöchige entbehrungsreiche Trip in die Einsamkeit einem der Teilnehmer als Strafe von seinem schwerreichen Vater auferlegt wurde. Begleitet wird die Gruppe von dem erfahrenen einheimischen Reiseführer Nick. Eigentlich kann bei solchen Touren kaum etwas schiefgehen und es entstehen, wenn man sich an sämtliche Vorgaben hält, bleibende Erinnerungen. Doch diesmal ist alles anders. Denn als man nach wenigen Tagen das erste Verpflegungsdepot erreicht, wird aus einer besonders herausfordernden Form von Urlaub plötzlich ein Kampf ums Überleben. Von DIETMAR JACOBSEN

Die Haut der Wörter

Roman | Thomas Stangl: Die Regeln des Tanzes Also gut, es geht nicht anders! Beginnen wir mit dem Zitat, dass fast alle Rezenten benutzt haben, weil es einfach genial ist: »Zwei bösartige Gnome wie aus einem schlechten Märchen haben mit einer Bande von Faschisten und Gaunern die Macht im Land übernommen«. Dieses Statement bezieht sich auf die politische Situation in Österreich im Februar des Jahres 2000 und ist die Ausgangslage von Thomas Stangls Roman Die Regeln des Tanzes. Rezensiert von WOLFGANG HAAN.

Schreiben, um nicht umzukommen

Roman | Antje Ravik Strubel: Blaue Frau

»Man hat ohnehin schon das Problem der Scham und des Schuldgefühls, wenn einem so etwas widerfährt. Überhaupt diese Schwelle zu überwinden, davon zu erzählen. Und dann wird man noch damit konfrontiert, dass einem der Vorwurf der Lüge gemacht wird. Das ist eine sehr heikle Situation. Das fand ich wichtig, darüber zu schreiben«, erklärte die in Potsdam lebende Autorin Antje Ravik Strubel über die gedankliche Vorgeschichte ihres neuen Romans, in dem sexualisierte Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Zur Verleihung des Deutschen Buchpreises 2021 schreibt PETER MOHR

Feindliche Übernahme

Roman | Dominique Manotti: Kesseltreiben Dominique Manotti gilt als Expertin in Wirtschaftsfragen. Und, weil sich in ihren Romanen profundes ökonomisches Wissen, ein wiedererkennbarer Individualstil und das Gespür für spannende Plots verbinden, auch als eine der besten und aufregendsten Thrillerautorinnen, die Europa zurzeit hat. Von DIETMAR JACOBSEN

Wenn Lärm zu Mordgelüsten führt

Roman | Patrícia Melo: Der Nachbar Von Nachbarn fühlt man sich manchmal vielleicht schon einmal gestört. Dass daraus aber ein häusliches Drama mit einer Leiche wird, das stammt dann schon eher aus der bitterbösen Feder von Patrícia Melo. Schwarzer Humor vom Feinsten! Von BARBARA WEGMANN