Egoismus ist die einzige Konstante

Roman | Annette Mingels: Was alles war

»Anfangen, Weitermachen, Lieben, Verlieren, Finden« – so lauten die Kapitelüberschriften, die wie inhaltliche Wegmarken fungieren, in Annette Mingels fünftem Roman Was alles war. Während die promovierte Literaturwissenschaftlerin in ihren Vorgängerwerken Die Liebe der Matrosen (2005) und Tontauben (2011) fragile Zweierbeziehungen unter die Lupe genommen hat, schickt sie nun eine Mittvierzigerin auf schmerzhafte familiäre Spurensuche. Von PETER MOHR

Was alles war von Annette Mingels
Dabei schreitet die 46-jährige Annette Mingels behutsam autobiografisches Terrain ab. Vor zehn Jahren hat sie in der FAZ bereits eine aufwühlende Reportage über die Begegnung von Adoptivkindern mit ihren leiblichen Eltern veröffentlicht. Vor dieser emotionalen Bewährungsprobe steht auch die Protagonistin Susanna Berner, die (wie die Autorin selbst) bei liebevollen Adoptiveltern aufwuchs, eine gute Ausbildung genossen hat und als Biologin arbeitet. Mit dem verwitweten Sprachwissenschaftler Henryk und dessen Töchtern hat sie sich ein kleines Patchworkfamilien-Idyll eingerichtet, und das Paar erwartet das erste gemeinsame Kind.

Plötzlich gerät dieser funktionierende Mikrokosmos aus den Fugen – durch das Auftauchen von Viola, Susannas leiblicher Mutter. Die paradigmatische 68er Frau verdient ihren Lebensunterhalt mal als Fotografin, mal als Schauspielerin – vor allem aber liebt sie das ausschweifende Leben. Ihre insgesamt vier Kinder hat sie alle zur Adoption frei gegeben.

Unterschiedlicher können Mutter und Tochter kaum sein – auf der einen Seite die rational gesteuerte Naturwissenschaftlerin, auf der anderen Seite der extrovertierte Genussmensch. In Susannas Erinnerungen an ihre erste Begegnung mit Henryk offenbart sich eine geradezu verklemmte Schüchternheit: »Vor meiner Haustür, der erste Kuss, die ersten Küsse, mehr nicht. Waren wir zusammen?« Die Tochter kommt spießiger daher als ihre leibliche Mutter.

Susannas kompletter innerer Werte-Kanon gerät ins Wanken. Sie verspürt sogar den Wunsch, ihren leiblichen Vater, der irgendwo in den USA lebt, kennen lernen zu wollen. Annette Mingels erzählt ihren autobiografisch unterfütterten Roman aus wechselnden Perspektiven, und über allem thront (zumindest latent) die quälende Frage, ob die Sozialisation oder die Gene prägenderen Einfluss auf die Entwicklung eines Menschen haben.

»Der Egoismus ist die einzige Konstante der Evolution«, lernt die total verunsicherte und in heftige emotionale Turbulenzen geratene Susanna von ihrem Halbbruder Cosmo. In Was alles war dominiert die Verunsicherung als Grundstimmung. Es ist eine schmerzhafte Suchbewegung, die Annette Mingels inszeniert – und doch haben wir ein ganz großes Sehnsuchtsbuch gelesen. Ruhe, das kleine Glück, das Bewahren des Status quo – das würde Susanna schon reichen.

Und wenn Henryks wissenschaftliches Spezialgebiet der Minnesang ist und sie selbst als Biologin über das Paarungsverhalten von Würmern geforscht hat, lässt sich daraus eine gleichermaßen versöhnliche wie humorvolle Volte schlagen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Annette Mingels: Was alles war
München: Knaus Verlag 2017
287 Seiten. 19,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Das Gute siegt immer und überall

Nächster Artikel

Autorensituation und Andershören im Musik-Journalismus

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Palast der Erinnerungen

Roman | Paul Auster: Baumgartner

Das häufig wiederkehrende Motiv des Verschwindens variiert Paul Auster in seinem aktuellen Roman um neue Facetten. Baumgartner durchläuft alle Phasen von Abwesenheit und Verlust, Trauer und Trost, Gedenken und Vergessen. Wie kann man nach dem Tod eines geliebten Partners weiterleben? Vielleicht sind einige metaphysische Momente im Spiel, in dieser schwebenden »Zwischenzeit verlorener Orientierung und irrationaler Anwandlungen«. Von INGEBORG JAISER

Schlaflos in Venedig

Roman | Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht

Die Sehnsucht nach Stille und Rückzug, nach klösterlicher Klausur, gehört wohl zu allen Schriftstellerfantasien und begleitet Leila Slimani bis zum Kreuzungspunkt zwischen Orient und Okzident. Der Duft der Blumen bei Nacht beschwört die Kraft der Poesie und der Literatur, entführt in entschwundene Gefilde und doppelte Identitäten. Von INGEBORG JAISER

Auszug aus der Einbahnstraße

Roman | Markus Öhrlich: Die beste erstbeste Gelegenheit Den komprimierten Roman Die beste erstbeste Gelegenheit von Markus Öhrlich hat STEFAN HEUER für TITEL kulturmagazin gelesen. Hier seine Leseerlebnisse.

Dresden nach dem großen Krieg

Krimi | Frank Goldammer: Roter Rabe In den letzten Kriegsmonaten setzt die Reihe historischer Kriminalromane ein, mit denen sich der Dresdener Autor Frank Goldammer (Jahrgang 1975) seit ein paar Jahren eine große Lesergemeinde geschaffen hat. Max Heller heißt sein Protagonist und die einzelnen Romane verbinden geschickt spannende Kriminalfälle mit deutsch-deutscher Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Von DIETMAR JACOBSEN

Im Land der Spione gehen die Uhren anders

Roman | Mick Herron: Joe Country

Langweilig wird es in der »Slough House« genannten Außenstelle des britischen Inlandsgeheimdienstes nie. Dafür sorgt nicht nur deren ungehobelter Leiter Jackson Lamb, sondern auch die Tatsache, dass immer wieder neue gescheiterte Existenzen in diese »Abteilung für Ausschussware« versetzt werden. Diesmal ist es der von polnischen Exilanten in zweiter Generation abstammende Lech Wicinski. Kinderpornos will man auf seinem Dienst-Laptop gefunden haben, Dateien, von denen er nicht weiß, wo sie hergekommen sind. Ist es nur ein Vorwand, um den wissbegierigen Jungspion kaltzustellen? Während der Mann um die Wiederherstellung seiner Ehre kämpft, bekommen es Lambs Männer und Frauen wieder mit einem alten Feind zu tun und nicht alle von ihnen kommen aus dem kalten, verschneiten Wales zurück, wohin sie von ihm gelockt werden. Von DIETMAR JACOBSEN