Ein Forrest Gump aus Deutschlands Osten

Roman | Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst

Mit ›Neue Leben‹ (2005) hat der in Dresden geborene Ingo Schulze (Jahrgang 1962) vor 12 Jahren den ultimativen Wenderoman geschrieben. Mit dem Nachklapp ›Adam und Evelyn‹ (2008) verabschiedete er sich dann für fast ein Jahrzehnt von der fiktiven Literatur. Nun ist er wieder da – mit einem Schelmenroman, der im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts spielt, durch das er seinen Helden Peter Holtz schickt. Von DIETMAR JACOBSEN

Ingo Schulze - Peter HoltzEr hat die ersten Jahre seines Lebens in einem Waisenheim verbracht – Peter Holtz, Titelfigur in Ingo Schulzes neuem, umfangreichem Roman. Dann, im Alter von 12 Jahren, findet er eine Ersatzfamilie, die Grohmanns. Denen gefällt die forsche Art des vom Sozialismus, wie ihn die DDR praktiziert, felsenfest überzeugten Jungen.

Wie die allenthalben über das kleine Land verteilten Spruchbänder klingen dessen Reden, und wenn ihm mal einer mit den Argumenten des »Klassenfeindes« kommt, zögert er auch nicht, den Ungläubigen höheren Orts anzuschwärzen. Sodass ganz schnell auch die Stasi auf den linientreuen Schüler aufmerksam wird. Doch IM »Pawel Kortschagin«, wie er sich nach dem Titelhelden aus Nikolai Ostrowskis Roman ›Wie der Stahl gehärtet wurde‹ von den Genossen nennen lässt, ist zu ehrlich für das fiese Geschäft des Verrats. Als er sich im Freundeskreis mit seinen guten Kontakten zu den Genossen brüstet, ist seine Horch-und-Guck-Karriere vorbei, noch ehe sie richtig angefangen hat.

IM »Pawel Kortschagin«

Ingo Schulze hat sich für seinen neuen Roman ›Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst‹ von der Tradition des Schelmenromans inspirieren lassen. Die reicht in der deutschen Literatur von Grimmelshausens ›Der abenteuerliche Simplisissimus‹ (1668) über Thomas Manns ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹ (1954) bis zu Grassens ›Die Blechtrommel‹ (1959).

International denkt man bei literarischen Schelmen etwa an Jaroslav Hašeks braven Soldaten Schwejk, Giovanni Guareschis italienischen Dorfgeistlichen Don Camillo und dessen Gegenspieler, den kommunistischen Bürgermeister Peppone, Jonas Jonassons hundertjährigen Allan Karsson, der sein Altersheim durch das Fenster verlässt, oder den von Winston Groom erfundenen und auch in der Verkörperung durch Tom Hanks in Robert Zemeckis gleichnamigen Film ausgesprochen erfolgreichen Forrest Gump.

Mit Letzterem teilt Schulzes Held die an Tumbheit grenzende Blauäugigkeit, welche dafür sorgt, dass ihm nahezu alles in seinem Leben gelingt. Peter Holtz hat immer Glück, mal verdient, doch meistens muss er nicht allzu viel dazu tun, es kommt ganz von allein. In seinem zweiten Leben bei den Grohmanns lernt er noch dazu die richtigen Leute kennen, die dafür sorgen, dass er in den Wendejahren in den Reihen der Opposition landet. Und er wird über Nacht sogar zum Millionär wider Willen.

Denn in den letzten DDR-Jahren wurden ihm als gelerntem Baufacharbeiter – seinen Traumberuf »Offizier der Nationalen Volksarmee« (!) musste er aufgrund fehlender gesundheitlicher Voraussetzungen sausen lassen – eine Reihe von Häusern geschenkt, deren Besitzer ihr Eigentum in einem Land des Mangels nicht mehr erhalten konnten. Nun plötzlich sind die Immobilien Gold wert. Bald freilich muss Peter Holtz auch erkennen, dass Geldhaben anstrengend sein kann – bereits das kleine Waisenkind, das er am Anfang des Romans war, hat versucht, einer Kellnerin zu vermitteln, dass Geld und Sozialismus sich gegenseitig eigentlich ausschließen.

Ein Schelm erzählt sein Leben

Schulze lässt seinen Protagonisten über sein Leben in der Ich-Form berichten. Aufgeteilt auf zehn Bücher, die sich nochmals in zahlreiche Kapitel mit barocken Überschriften untergliedern – »Erstes Kapitel/ In dem Peter ohne einen Pfennig in der Tasche eine Gaststätte aufsucht und erklärt, warum er das für richtig hält. Überlegungen zum Stellenwert des Geldes im Sozialismus« lautet die des Eingangsabschnitts –, gibt er Auskunft über einen Zeitraum von gut einem Vierteljahrhundert. Zweieinhalb Dekaden, in denen sich in Deutschland alles ändert, aus zwei Ländern wieder eines wird.

Allein Schulzes Held bleibt seinen alten Idealen treu, passt sie nur immer wieder den sich wandelnden Verhältnissen an. Entdeckt in den achtziger Jahren in der Religion, was er sich einst vom Kommunismus versprach, und in der kapitalistischen Marktwirtschaft schließlich etwas, das, wenn man es nur so betreibt wie er, der am Ende seine Häuser verschenkt und sein Geld öffentlich verbrennt, auch mit einer neuen, trotzigen Art von revolutionärem Geist erfüllen kann.

›Peter Holtz‹ erzählt die deutsch-deutsche Geschichte des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts aus einem ganz neuen Blickwinkel. Wenn der Leser den Helden kennenlernt, schreibt man das Jahr 1974. Wenn sich Holtz am Ende aus seiner »ökonomischen Gefangenschaft« befreit und seine letzten Worte an den Leser aus einer geschlossenen Einrichtung heraus richtet, in die man ihn nach der Geldverbrennung auf offener Straße verbracht hat, steht die Jahrtausendwende vor der Tür.

Dazwischen ist er – meist ohne jegliches eigenes Dazutun oder Kalkül – immer im Umkreis jener zu finden, die sich bei der Gestaltung des Neuen an die Spitze gesetzt haben. Deshalb taucht zeitgeschichtliches Personal von Lothar de Maizière bis Gregor Gysi, vom oppositionellen Kirchenmann Theo Lehmann bis zu den Schriftstellern Uwe Grüning oder Volker Braun zur Freude des Lesers mal unter Klarnamen, mal gut versteckt hinter Pseudonymen auf.

Weniger verrückt klingen die Worte, mit denen Schulzes Held am Ende des Romans rekapituliert, wohin ihn sein Weg geführt hat, übrigens, wenn man bedenkt, dass Peter Holtz von Anfang an auf der Suche nach einer Glück für alle generierenden Gesellschaftsform war. Da er die aber weder in einem von Ideologie, noch in einem von Besitz und Geld dominierten System zu finden vermochte, lautet sein Fazit schließlich: weiterzukämpfen, bis mit dem letzten verbrannten Geldschein auch alles Trennende aus der Welt verschwunden ist: »Schon wenige verbrannte Scheine haben ausgereicht, die ganze Schwäche unserer Welt zu offenbaren. Keiner vermag sich vorzustellen, über welch ungeheure Kraft wir gebieten, wenn wir Kurs halten!«

Ein neuer Blick auf unsere jüngste Geschichte

Karl Marx hat Hegels Bemerkung, dass alle großen historischen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen, mit Blick auf den Staatsstreich des Napoleon-Neffen Louis Bonaparte vom Dezember 1851 dahingehend ergänzt, dass dies das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce geschähe. Überschaut man Ingo Schulzes Werk der letzten knapp zwei Jahrzehnte, so lässt sich Ähnliches an seinen beiden großen literarischen Auseinandersetzungen mit der jüngsten deutschen Geschichte beobachten.

Mit ›Neue Leben‹ hat der heute in Berlin beheimatete Autor 2005 den so genannten »Wenderoman« zu einem Höhe- und Schlusspunkt geführt. Weil in dem vielschichtigen Briefroman beide Seiten – der Osten und der Westen, die Vergangenheit und die Gegenwart – zur Sprache kommen, erfüllt er eine vor allem von in Ostdeutschland sozialisierten Intellektuellen in den 90er Jahren immer wieder erhobene Forderung. Nur wenn man endlich beginne, sich gegenseitig seine Geschichten zu erzählen, war damals immer wieder zu hören, sei nach der äußeren auch die innere Teilung Deutschlands als Hemmnis im Wiedervereinigungsprozess überwindbar.

Indem Ingo Schulze mit ›Neue Leben‹ dies literarisch-ästhetisch umsetzt, macht er den herkömmlichen Wenderoman überflüssig und schafft Platz für die Bücher von Uwe Tellkamp, Eugen Ruge und Lutz Seiler (Alle drei mit dem Deutschen Buchpreis geehrt, der Schulze noch fehlt!), die keine Wenderomane mehr sind, sondern im Grunde archäologisch angelegte Untersuchungen einer an den eigenen Maßstäben gescheiterten Gesellschaft.

Wenderoman 2.0

Mit ›Peter Holtz‹ nun hat sich Schulze eine neue Freiheit seinem alten Thema gegenüber erschrieben. Der Wenderoman ist sozusagen wieder da, aber der Fokus auf das, was zur deutschen Wiedervereinigung führte, und auf die Hemmnisse, die sich deren automatischem Gelingen in den Weg stellten, hat sich fundamental verändert. Wir haben es sozusagen mit dem Wenderoman 2.0 zu tun. Witzig-melancholisch basiert der auf einem neuen Selbstbewusstsein sowohl seiner Autoren wie auch der von ihnen erfundenen Helden.

Dass mit Thomas Brussigs ›Beste Absichten‹ (2017) und Christian Bangels ›Oder Florida‹ (2017) fast zeitgleich mit Schulzes ›Peter Holtz‹ zwei Bücher erschienen, in denen ähnliche Geschichten erzählt werden, ist noch kein Trend, könnte sich aber zu einem entwickeln. Und macht uns Leser nur noch gespannter auf Uwe Tellkamps seit Jahren versprochene Fortsetzung seines Großromans ›Der Turm‹.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst
Frankfurt/Main: S.Fischer Verlag 2017
573 Seiten, 22,- Euro
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