Sachbuch | Gabriele Krone-Schmalz: Eiszeit
Im Juni 2016 mahnte der deutsche Außenminister anlässlich eines NATO-Manövers, das an der russischen Westgrenze stattfand, vor »Säbelrasseln und Kriegsgeheul«. Er bezog Prügel von den Leitmedien, und seine NATO-Kollegen zeigten sich irritiert. Von WOLF SENFF
Doch laut Meinungsumfragen identifizierten sich vierundsechzig Prozent der Bevölkerung mit dieser Mahnung. Wenn wir uns vornehm ausdrücken wollen, nennen wir das eine Schieflage, und wir beobachten sie jedesmal, wenn es um Russland geht. Putin. Genau. So ganz in die Niederungen eines Bin Laden, eines Saddam Hussein oder Gaddafi ist er bislang nicht angelangt. Doch es fehlt nicht viel.
Mediale Strickmuster
Er dränge, so die hiesigen Leitmedien – Krone-Schmalz zitiert mehrfach den SPIEGEL –, nach territorialer Expansion und verhalte sich unkalkulierbar. Von »uns«, also vom Westen, gehe ja bekanntlich null Gefahr aus.
Da fragt man sich unwillkürlich, nach welchem Muster die Medien hierzulande gestrickt sind. Und wer denn eigentlich strickt. Gabriele Krone-Schmalz stößt uns auf das merkwürdige Missverhältnis, in dem wir über Russland einerseits und andere Länder andererseits informiert werden.
Zahlen und Fakten
Die Fakten sind simpel. Und Gabriele Krone-Schmalz gibt Beispiele zuhauf. Das westliche Militärbündnis NATO nehme nicht zur Kenntnis, dass die eigene sogenannte Osterweiterung und der angestrebte NATO-Beitritt der Ukraine vonseiten Russlands als eine existenzielle Bedrohung empfunden wird. Dabei reicht ein Blick auf die Geographie, um die russischen Sorgen zu verstehen. Wie halsstarrig kann man sein? Die NATO betreibt kaltblütige Machtpolitik.
Oder nicht? Gabriele Krone-Schmalz blickt auf die Fakten. Was Militärausgaben, Truppenstärken etc. angeht, sind die russischen Streitkräfte weit unterlegen. Weltweite Militärpräsenz? Russland unterhält elf Militärstützpunkte im benachbarten Ausland, die USA achthundert in mehr als siebzig Ländern, und zusätzlich kreuzen elf riesige atomgetriebene US-Flugzeugträger permanent auf den Weltmeeren gegenüber einem russischen, sodass die Frage gerechtfertigt sein dürfte, wer eigentlich den Frieden gefährdet.
Expansion und Eskalation
Wer kann Verständnis aufbringen für eine derartige waffenstarrende Hochrüstung, einen extrem aufgerüsteten Zustand, den wir genauso innenpolitisch im Alltag der USA wahrnehmen. Generell fehlt den hiesigen Leitmedien ein Bewusstsein dieser unterschiedlichen Kultur, was den Umgang mit Gewalt und Waffen betrifft. Wir sind nicht nur nicht informiert, sondern diese Verschiedenheit ist aus der öffentlichen Wahrnehmung ausgeblendet – normal nennen wir das Gehirnwäsche.
Im Zusammenhang der Stationierung US-amerikanischer Raketensysteme – gegen einen vermeintlichen Aggressor Iran – in Rumänien und Polen beschreibt Gabriele Krone-Schmalz eine Eskalation militärischer Bedrohungsszenarien, die mit der Inbetriebnahme der Systeme in Polen, die für 2018 vorgesehen ist, auf eine hochgefährliche Konfliktlage zusteuere.
Parallele in Südkorea
Auch hier drängt sich bei der Lektüre immer wieder die Frage auf, was denn die hiesigen Leitmedien zur unparteiischen Information der Öffentlichkeit beitragen. Nicht dass sie das nicht wüssten. Täglich werfen sie eifrig mit Großbuchstaben um sich, doch in diesen Fällen halten sie artig stille und ziehen vor, zu schweigen.
Verschnarcht. Das wäre noch freundlich gesagt. Denn die USA stationieren derzeit ebenfalls ein Raketenabwehrsystem in Südkorea, um potentielle Raketen aus Nordkorea abzufangen. Gegen dieses System wird in der südkoreanischen Bevölkerung massiv protestiert – und, welche Parallelität der Ereignisse, China fühlt sich potentiell gefährdet. »Though this be madness, yet there is method in’t.«
Dialog ist unverzichtbar
Gabriele Krone-Schmalz erinnert an die äußerst gefährlichen Konfrontationen während der frühen achtziger Jahre, vor allem im Zusammenhang des NATO-Großmanövers ›Able Archer 83‹, das die Welt an den Rand eines Atomkrieges gestellt habe. Ebenso steuere man heute auf einen Tanz am Abgrund zu.
Der Ausweg aus der gegenwärtigen Konfrontation könne nur darin liegen, dass man zu einem Dialog zurückkehre. Der Westen bzw. die NATO könne die berechtigten Vorbehalte Russlands nicht weiterhin ignorieren, sondern müsse bereit sein, in einen Dialog einzutreten.
Wandel durch Annäherung
Sie wirbt für eine neue Entspannungspolitik, für eine Strategie des Friedens, wie sie seinerzeit der amerikanische Präsident John F. Kennedy, noch unter dem Eindruck der Kubakrise stehend, für die westliche Welt entworfen habe und wie sie hierzulande von Willy Brandt und Egon Bahr als ein Wandel durch Annäherung praktiziert wurde. Auch heutzutage komme Deutschlands Außenpolitik eine Schlüsselrolle zu.
Gabriele Krone-Schmalz verfasst eine detailreiche und sorgfältige Arbeit, die auch den Politikern nachdrücklich als Lektüre zu empfehlen ist.
Titelangaben
Gabriele Krone-Schmalz: Eiszeit
Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist
München: C.H. Beck 2017
304 Seiten, 16,95 Euro
|Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe