Kommentar | Wolf Senff: Tod und Teufel
Wir sind einiges gewöhnt von unserer Führungsmacht. John F. Kennedy amüsierte sich mit Marilyn Monroe, Bill Clinton war kein Waisenknabe. Und dass sich das Publikum die Mätresse des POTUS beim Vollzug ihrer sexuellen Praktiken auf den heimischen Flachbildschirm ziehen kann – nein, die Herrschaften haben es nicht nötig, auch nur den Anschein von Anstand zu wahren. Ein Kommentar von WOLF SENFF
Europa muss aufpassen, zwischen den mächtigen IT-Konzernen und geopolitischen Machtblöcken nicht zu zerbröseln, und trödelt gern hinterher. Kennen wir Erklärungsmuster, die uns helfen, derartig ausgefallene Sitten zu verstehen? Irgendeinen deutschen Politiker, der sich traut, sich öffentlich über diese Verwahrlosung aufzuregen? Ein Schlüsselbegriff gegenwärtiger angloamerikanischer Kulturkritik ist die Tradition des ›Gothic‹ – wir leben, hieße das übersetzt, in einer furchtbaren Zeit.
›Schwarze Romantik‹
Eine so ungemütliche Behauptung tropft jedoch am hiesigen Normalbürger ab, da öffnet er nicht mal die Augen. ›Gothic‹ ist abgeleitet von ›Gothic Novel‹, einem literarischen Genre, dem Schauerroman, prominent vertreten durch den amerikanischen Autor Edgar Allan Poe (1809-1849), die Engländerin Mary Shelley (1797-1851) mit ›Frankenstein‹, und in Deutschland durch Gustav Meyrink (1861-1932).
In Deutschland bildete sich noch vorher eine eigene Tradition heraus, die ›Schwarze Romantik‹. Deren wohl bedeutendster Vertreter ist E.T.A. Hoffmann, dessen ›Nachtstücke‹ 1816 veröffentlicht wurden. Die Nacht galt ihm als die Erzeugerin alles Schönen und Furchtbaren, Dunklen und Geheimnisvollen, als die Mutter der Brüder Schlaf und Tod, mit seiner Figur Olimpia präsentierte er in ›Sandmann‹ einen Automaten, bedingt lebensfähig, das ist alles eine Weile her und dennoch brandaktuell.
›Zombie‹
Die Tradition ›Gothic Novel‹ bzw. ›Schwarze Romantik‹ breitete sich einhergehend mit der Diversifizierung der Medien kontinuierlich weiter aus, quantitativ wie qualitativ, und begründete eine weit verbreitete moderne Kultur von Furcht, Horror, exzessiver Lustbarkeit und Auflösung einer verbindlichen Moral – siehe Stormy Daniels.
Über die Leinwände der Gegenwart flimmern Zombies – monströse Untote, die sich von Menschenfleisch ernähren –, begründet mit Viktor Halperins ›White Zombie‹ (1932) und zurzeit vertreten u. a. durch George A. Romero mit ›Night of the Living Dead‹ (1968), ›Dawn of the Dead‹ (1978) und ›Resort‹ (2015) – Themen sind drohende atomare Katastrophen, selbstzerstörerisches Konsumdenken und skrupellose Diskriminierung von Minderheiten.
Schwarze Szene
Das Publikum wird flächendeckend mit Zombie-Komödien und mit Zombie-Trash versorgt. Die Eigenständigkeit der Zombie-Figur zeigt sich auch darin, dass sie in Videospielen, Gesellschaftsspielen, Comics auftritt. Darüber hinaus haben sich ›Zombie Walks‹ etabliert, Großveranstaltungen, deren Teilnehmer als Untote verkleidet durch die Straßen ziehen, in 2010 im australischen Brisbane mit zehntausend Teilnehmern – Spaßgesellschaft?
Es gibt wenig Verlässliches, was Auskunft über Tragweite und gesellschaftliches Gewicht der schwarzen Szene Auskunft gibt. Wir wissen von Leipzig als dem jährlich zu Pfingsten bedeutenden internationalen Wallfahrtsort von ›Grufties‹ oder ›Goths‹, wir kennen die ›Heavy Metal Town‹ Wacken, deren Plätze mittlerweile ein Jahr vor dem Termin der ›Wacken Open Air‹ – wo 2013 ›Rammstein‹ auftraten und 2016 ›Iron Maiden‹ – komplett ausverkauft sind.
Zu Hilfe!
Wir erleben eine kulturelle Strömung des Schauerlichen, des Gruseligen, des Fremden, in den USA der vierziger Jahre die Tradition des ›Film Noir‹. Je mehr wir die Augen öffnen, desto klarer wird, dass es fragwürdig wäre, noch von einer Subkultur zu sprechen, zumal wir uns erinnern, welch hohe Auflagen der Autor des Horrors, Stephen King, unter die Leute bringt.
Unsere Kriminalfilme überschütten uns mit Erpressungen, Entführungen, Vergewaltigungen, Morden, Suiziden, Attentaten, Kindesmisshandlungen. Eine Ausstellung im Bostoner Institute of Contemporary Art zeigte 1997 diese ›gotischen‹ Ausprägungen in nahezu allen Bereichen von Architektur über Mode, Design, Sex, Verbrechen bis zu Unterhaltung im Mainstream.
Kein Ort für den Tod?
Da sind Gewichte verschoben, die Dinge sind aus ihrer Balance gefallen. Wenn wir unsere westlich-industrialisierte Lebensweise daraufhin abklopfen, welche Rolle der Tod in ihr spielt, und sie mit anderen Lebensweisen vergleichen, beobachten wir zwar angestrengte Bemühungen, den Tod herauszuorganisieren, seine Präsenz zu ignorieren und auf diese Weise die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
Doch er dringt prompt durch die Seiteneingänge wieder ein, eine breite kulturelle Strömung, oft genug ignoriert von den Medien des Mainstream, die ihn gern komplett weg nach Syrien sortieren würden, in den Irak, nach Afghanistan, in den Jemen, wo der Westen seine Hochleistungskriege inszeniert.
| WOLF SENFF
| FOTO: J. FUCHS