Was würdest du tun, um frei zu bleiben?

Roman | Christina Dalcher: Vox

100 Wörter pro Tag, Doktortitel aberkannt, ein Leben für die Familie: Jean McClellan versteht die Welt nicht mehr. Denn in ihrer hat sie keine Stimme mehr. Begleiten Sie MONA KAMPE in eine erschreckende Dystopie, die alle Verstummten wachrüttelt.

Vox»Denk darüber nach, was du tun musst, um frei zu bleiben.« Jackies Worte kommen Jean neuerdings ständig in den Kopf. Denn ihre einstige College-Freundin lag ihr schon damals mit ihrem Aktivismus in den Ohren. Sie selbst hatte nie protestiert, sondern fleißig studiert. »Tja, mehr zu tun als rein gar nichts, hätte ein guter Anfang sein können.«

Vielleicht hätte dann alles verhindert werden können. Hätte es? Denn seitdem die neue Regierung an der Macht ist, ist die Welt in Jeans Land nicht mehr dieselbe. Frauen wurden ihre Rechte entzogen, wichtige Titel ihnen aberkannt, das Patriarchat wieder belebt. Die Spitze unter Präsident Myers und Reverend Carl vollzieht einen gesellschaftlichen Rückwandel in die 50er Jahre, in denen die Frauen Heim und Kinder hüten und die Männer das Sagen in der Familie haben. Zudem stehen christliche Glaubensgrundsätze an oberster Stelle und werden in den Schulen verbreitet. Die weibliche Stimme zählt nicht mehr, sie ist auf ein Kontingent von 100 Wörtern pro Tag begrenzt. Wer es überschreitet, erhält Stromschläge.

Jean McClellan will diese Irrwelt nicht akzeptieren, in der vor allem ihre Tochter Sonia ohne kindliches Geplapper, Möglichkeiten, Literatur oder Freiheiten aufwächst. Nein, sie erhält einen Preis dafür, dass sie den ganzen Morgen in der Schule geschwiegen hat! Zu allem Überfluss verliert sie den Zugang zu ihrem Sohn Steven, der als Teil »der Reinen« die neuen Grundsätze propagiert.

Familie oder Freiheit?

Als das Wernicke-Sprachzentrum von Präsident Myers‘ Bruder nach einem Unfall stark geschädigt wird, macht die Regierung der ehemaligen Doktorin ein Angebot: Ihre Forschung an einem Heilserum wieder aufnehmen und den Wortzähler an ihrem Handgelenk für diese Zeit abgeben. Doch Jean ist nicht käuflich. Letztlich willigt sie doch ein, um ihrer Tochter ihre Stimme zurückzugeben.

Das erweist sich alles andere als einfach, denn sie hat Sonia ihre wenigen Worte mit Belohnungen antrainieren müssen. Zudem taucht ihr früherer Liebhaber in ihrem Forschungsteam auf und stellt ihre Welt abermals auf den Kopf. Bald muss Jean sich zwischen Fügen und Familienleben oder Flucht und Freiheit entscheiden.

»Es gibt eine Widerstandsbewegung?« Das Wort klingt süß in meinen Ohren, während ich es ausspreche. »Schätzchen, Widerstand gibt es immer.« Auf dem Weg zurück zum Haus bekommt die Frau neben mir immer mehr Ähnlichkeit mit Jackie.«

»In der Zukunft hast du keine Stimme mehr«

Die Linguistin Christina Dalcher schafft in ihrem Debütroman ›Vox‹ eine erschreckend wachrüttelnde und emotionale, realistische Vision eines totalitären Systems, basierend auf dem Frauenbild der 50er Jahre und streng religiöser Glaubenssätze. Die Dystopie führt uns einmal mehr mögliche Auswirkungen aktueller gesellschaftlicher und politischer Diskussionen sowie Strömungen und Umbrüche vor Augen und stärkt die Relevanz von Debatten wie ›#MeToo‹.

Durchschnittlich spricht der Mensch ungefähr 16.000 Wörter täglich, ein Tageslimit von 100 sprengt jegliche Vorstellungskraft und ist gerade in Bezug auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen schlichtweg untragbar. »Ich habe ›Vox‹ als Warnung geschrieben, als Warnruf gegen eine Politik der Geschlechtertrennung, aber auch, um zu zeigen, wie sehr unsere Persönlichkeit und Menschlichkeit von unserer Sprache abhängt. Ich habe mir selbst die schreckliche Frage gestellt: »Was wäre, uns würde dieses Vermögen genommen?«, schreibt Dalcher über ihre Motivation.

›Vox‹ ist nicht nur ein feministischer Roman, er ist ein Aufschrei gegen Unterdrückung und mächtige Interessengruppen. Er zeigt auch, wie schnell sich die Welt um uns herum verändern kann, wenn wir das Geschenk unserer Stimme nicht nutzen, sondern sie als selbstverständlich betrachten.

| MONA KAMPE

Titelangaben
Christina Dalcher: Vox
Frankfurt am Main: S. FISCHER Verlag 2018
Aus dem Amerikanischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
403 Seiten, 20 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ganz schön verwickelt

Nächster Artikel

Ein Ritter und sein Hundepferd und ihre gefährlichen Abenteuer

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Biographie mit Brüchen

Roman | Deniz Ohde: Streulicht

In Deutschland bleibt die soziale Herkunft laut der PISA-Studie 2015 entscheidend für den Schulerfolg, und zwar nach wie vor stärker als in anderen Industrienationen. Laut der PISA-Studie aus dem Jahr 2018 hat die soziale Ungleichheit in Deutschland sogar wieder zugenommen.
Deniz Ohde hat sich in ihrem Debütroman »Streulicht« ganz dem Thema der sozialen Ungleichheit und des Rassismus gewidmet, indem sie mit einem klarsichtigen und unverstellten Blick sowie deutlichen Worten den feinen Unterschieden in unserer Gesellschaft nachspürt, die sich von der Kindheit über die Jugend bis ins Erwachsenenleben ihrer Erzählerin ziehen. Von FLORIAN BIRNMEYER

Der Hammer verändert die Welt

Roman | Hansjörg Schertenleib: Jawaka Der abwechselnd in Irland und im Kanton Aargau lebende Schriftsteller Hansjörg Schertenleib hat sich auf völlig neues literarisches Terrain begeben. Der 58-jährige Autor, der zuletzt die von der Kritik hoch gelobten, dem Realismus verpflichteten und in der Gegenwart angesiedelten Romane ›Das Regenorchester‹ (2008), ›Cowboysommer‹ (2010) und ›Wald aus Glas‹ (2012) vorgelegt hatte, gehört zu den renommiertesten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Nun schickt uns Schertenleib auf ziemlich abenteuerliche Weise in die Zukunft: »Beim Schreiben merkte ich, dass mir die Welt, die ich da entwickelt hatte, viel besser gefällt als die Gegenwart.« – PETER MOHR hat seinen

Argentinische Welten

Roman | María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten Fantasievoll und voller Wortspiele sind die Romane der argentinischen Schriftstellerin María Cecilia Barbetta, für die sie zu Recht ausgezeichnet wurde. In Nachtleuchten wirft sie einen freundlichen Blick auf das Ende der Ära Perón. Ganz aktuell erhielt sie den neuen Chamisso-Literaturpreis, der von der Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Dresden gestiftet wurde. Von BETTINA GUTIERREZ

Der Dandy und die Bücherdiebe

Roman | Ross Thomas: Keine weiteren Fragen

Ein wertvolles Buch ist aus der Washingtoner Kongressbibliothek verschwunden: Plinius' Historia naturalis. Und mit dem Folianten zusammen der beste Detektiv der Westküste, Jack Marsh. Er sollte die Leihgabe zu ihrer Besitzerin zurückbringen, was offenbar schiefging. Nun melden sich die Diebe, um über den teuren Rückkauf ihrer Beute zu verhandeln. Und da kommt ein Mann ins Spiel, der spezialisiert auf »Vermittlungen« der besonderen Art ist: Philip St. Ives, Ross Thomas' notorisch in Geldnöten sich befindender Lebemann mit einer Leidenschaft fürs Pokern und dem Ruf, sich von niemandem linken zu lassen. Allein diesmal laufen die Dinge nicht so einfach wie gedacht. Von DIETMAR JACOBSEN

Wie Rauch in den Winden

Roman | Raoul Schrott: Eine Geschichte des Windes

Es ist ein wunderschönes Buch, nicht nur von außen, rundum, nein, auch sein Inhalt, geschrieben über oder aus Sicht eines Mannes, der eigentlich immer im Hintergrund stand, der wenig bekannt ist, dem nie große Beachtung zuteilwurde: Hannes aus Aachen. Und seine unglaubliche Seefahrt-Geschichte beginnt vor 500 Jahren. BARBARA WEGMANN hat das Buch gelesen.