Der perfekte Sündenbock

Roman | André Georgi: Die letzte Terroristin

Sandra Wellmann bewirbt sich mit 248 anderen um die Stelle der persönlichen Assistentin von Treuhandchef Hans-Georg Dahlmann und bekommt den Job. Was nur sie und Dahlmann wissen: Sandra ist eine Studienfreundin von dessen Tochter Sonja, kennt den Chef jener Anstalt, die die Betriebe der DDR nach deren Zusammenbruch in die Marktwirtschaft überführen sollte, persönlich und bekommt, weil der auch große Stücke auf sie hält, die Stelle, ohne sich erst der Konkurrenz stellen zu müssen. Was Dahlmann freilich nicht ahnt: Sandra Wellmann arbeitet für die RAF und soll den günstigsten Moment ausspionieren, um den verhassten Mann zu töten. Von DIETMAR JACOBSEN

Roman | André Georgi: Die letzte TerroristinAm 1. April 1991 wurde Detlev Karsten Rohwedder in seiner Düsseldorfer Villa das siebte und letzte Opfer der so genannten Dritten Generation der RAF. Als Präsident der Treuhandanstalt war der frühere Manager und Politiker verantwortlich für die Überführung der volkseigenen Betriebe der DDR in die Marktwirtschaft.

Dass er sich in dieser Position zahlreiche Feinde in Ost und West machte – für die einen war er als »Abwickler« verantwortlich für die steigende Arbeitslosigkeit im Osten des Landes, die anderen sahen ihre Hoffnung, die marode Wirtschaft der DDR als Schnäppchen übernehmen zu können, durch die Art und Weise, wie Rohwedder seine Behörde führte, enttäuscht –, war nicht überraschend. Ob der Scharfschütze, der den Treuhand-Chef im Arbeitszimmer seines Hauses tötete und seine ihm zu Hilfe kommende Frau mit einem zweiten Schuss verletzte, freilich tatsächlich der RAF, die sich zweimal zu der Tat bekannte, angehörte, ist bis heute nicht hundertprozentig erwiesen.

Der Fall Rohwedder

Ein authentischer Fall mit zahlreichen Ungereimtheiten – mehr kann sich ein Autor nicht wünschen, damit seine Fantasie in Schwung kommt. Und so mixt André Georgi (Jahrgang 1965) in seinem zweiten Roman Die letzte Terroristin geschickt historische Realität und literarische Fiktion. Der bei ihm den Namen Hans-Georg Dahlmann tragende Treuhandchef holt sich in der Person seiner neuen Assistentin Sandra Wellmann gleich zu Beginn des Romans den Feind ins eigene Haus. Denn Sandra, vormals Studienfreundin von Dahlmanns Tochter, hat sich in der Hamburger Hausbesetzerszene radikalisiert und soll den Boden für ein Killerkommando der RAF bereiten.

Derweil versucht der Wiesbadener BKA-Ermittler Andreas Kawert alles, um nach der Ermordung des Frankfurter Bankiers Ernst Wegner – der in Georgis Thriller die Stelle von Alfred Herrhausen, dem am 30. November 1989 ermordeten Vorstandssprecher der Deutschen Bank, einnimmt – die Situation schnell wieder unter Kontrolle zu bringen, weitere Anschläge zu verhindern und der Terroristen habhaft zu werden.

Aus ständig wechselnden Perspektiven – was dem Roman nicht zuletzt seine bis zum Ende anhaltende Spannung verleiht – beleuchtet Georgi die Vorbereitung des Attentats. Für Dahlmanns Tod durch die Kugel eines Scharfschützen lässt er dann aber eine unabhängig von den RAF-Terroristen operierende Einheit verantwortlich sein. Sandra Wellmann und ihre Komplizen fungieren letzten Endes als Sündenböcke für das einzige Verbrechen, das sie nicht begangen haben. Dass es sich bei der Ermordung Dahlmanns um eine von früheren Stasi-Leuten durchgeführte Aktion im Auftrag von Wirtschaftskreisen, denen der Treuhandpräsident bei der Verteilung des DDR-Vermögens zu ehrlich war, handelt, deutet Die letzte Terroristin, damit eine tatsächlich kursierende Spekulation aufnehmend, an mehreren Stellen an.

»Ein Schnäppchen namens DDR«

»Ein Schnäppchen namens DDR«, wie Günter Grass 1993 die wirtschaftliche Hinterlassenschaft von knapp 40 Jahren Sozialismus auf ostdeutschem Boden nannte, bringt in Georgis spannendem Roman die Dinge ins Rollen. Wenn Sandra Wellmann bei der Treuhandgesellschaft anheuert, landet sie sofort im Spannungsfeld zwischen einem seinen Job so gut wie möglich machen wollenden Top-Manager und gefährlichen Kräften in Ost wie West, die den Mann, der für die einen zu unabhängig ist, während er für andere zu offensichtlich im Auftrag des verhassten Kapitalismus handelt, am liebsten aus (beziehungsweise in) der Schusslinie hätten.

»Die Sozialisten schreiben ganze Bibliotheken darüber, wie der Kapitalismus in den Sozialismus übergeht«, lässt Dahlmann bei einem der ersten vertrauten Gespräche mit seiner Assistentin verlauten. Und er fährt fort, indem er das Problem beim Namen nennt, das ihm kurz darauf das Leben kosten wird: »Über den umgekehrten Weg gibt es kein einziges Buch. Wir privatisieren von jetzt auf jetzt einen ganzen Staat. Die Alternative ist nicht: Fehler – keine Fehler. Die Alternative ist: Ein Haufen Fehler – noch mehr Fehler.«

Terroristen ohne Glauben an irgendetwas und nur noch aufs Töten programmiert. Wirtschaftsbosse und ihre Anwälte, die sich am Zusammenbruch eines Staates gesundstoßen oder der Konkurrenz von morgen schon heute den Boden unter den Füßen wegziehen wollen. Lobbyisten und Staatsschützer, alte Stasi-Seilschaften auf der Suche nach neuen Auftraggebern und kostenintensive V-Männer, die mit öffentlichen Geldern Staatsfeinde päppeln. André Georgi hat sie alle in ein intensives, multiperspektivisches Zeitbild der frühen neunziger Jahre gepackt, bei dem man irgendwann nicht mehr weiß, wer hier eigentlich für das Recht und wer für das Unrecht steht. Nur eines weiß man dafür mit ziemlicher Sicherheit: Am Ende leiden unter den schmutzigen Geschäften der Saubermänner im Hintergrund immer diejenigen am meisten, die – wie die Familie der Terroristen Sandra Wellmann – am wenigsten damit zu tun haben.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
André Georgi: Die letzte Terroristin
Berlin: Suhrkamp Verlag 2018
362 Seiten. 14,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Nicht gestellte Fragen

Nächster Artikel

Ein Hoffnungsträger der deutschen Kunst

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wenn der Tod im Osten Einzug hält

Roman | Jerome P. Schaefer: Der Dschungel von Budapest

Die Welt an der schönen blauen Donau scheint in Ordnung zu sein. Auf den ersten Blick zumindest. Bei genauem Hinsehen aber regt sich leiser Zweifel an der Idylle in Budapest: Das Wasser des Stroms »glitzert« schon etwas »unruhig«, der Himmel strahlt eisig »kalt blau« und die Margaretheninsel schimmert in der Ferne »fast wie eine Schimäre«. Und mitten in dieser Szenerie, am Rande des Budapest Marathons, finden wir Tamás Livermore. Nicht als teilnehmenden Sportler, nein, der Privatdetektiv hat sich als Sicherheitsmann anstellen lassen und beobachtet, ausgerüstet mit einem Walkie-Talkie, das Geschehen von der anderen Seite des Flusses. Die Störung lässt nicht lange auf sich warten. Eine Autobombe zerreißt das friedliche Bild, »die Kakophonie des Notfalls setzt ein«. In seinem Debüt Der Dschungel von Budapest – erschienen im Berliner Transit-Verlag – gerät Jerome P. Schaefers Privatermittler mitten in ein ziemlich brisantes politisches Räderwerk von dunklen Machenschaften im Ungarn der Nachwendezeit. Gelesen von HUBERT HOLZMANN

Zwischen Meister und Gesellen

Roman | Uwe Timm: Alle meine Geister

In Alle meine Geister beschwört der 83jährige Uwe Timm die Weggefährten seiner Lehrzeit herauf und wagt die Ehrenrettung eines fast verschwundenen Metiers: des Kürschnerhandwerks. Dessen Handgriffe und Fertigkeiten dem Schriftsteller lebenslang zugutekommen werden. Auch wenn der Rückblick besiegelt: »Erinnern ist ein merkwürdiges Vergessen.« Von INGEBORG JAISER

Mit dem Schwarzgeld aus dem Paradies

Roman | Martin Lechner: Kleine Kassa

Der Salzburger Residenz Verlag überrascht – beinahe möchte man sagen wie immer mit gewohnter Zuverlässigkeit – mit einem außergewöhnlichem Roman. Der aus Norddeutschland stammende Schriftsteller Martin Lechner hat mit Kleine Kassa ein recht temporeiches und humorvolles Debüt vorgelegt, das zwar als »Heimatroman« auf dem Buchumschlag angekündigt wird, allerdings jegliche regionale Klischees und alle biedere Sentimentalität durchbricht. Von HUBERT HOLZMANN

Ein Epos in aktualisierter Form

Roman | Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber ist ein Werk, das ganz im Zeichen des Widerstands steht. Die 96-jährige französische Medizinerin und Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir, geboren 1923 in der Bretagne, ist die unangefochtene Heldin dieses mit dem Deutschen Buchpreis 2020 prämierten Versepos. Sie stellte ihr Leben in den Dienst des Kampfs gegen Besatzer, zunächst gegen die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs, dann, ab 1954, gegen die französischen Kolonialherren in Algerien. Von FLORIAN BIRNMEYER

Monolog einer Sprachlosen

Roman | Emmanuelle Pagano: Die Haarschublade Als sie mit fünfzehn Jahren Pierre, ihr erstes Kind, bekommt, muss sie von der Schule abgehen. Ohnehin hatten sie der Unterricht und die Bücher angeödet, denn sie wollte doch später nur eines: Friseurin werden. Als sie aber mit knapp achtzehn Jahren Titouan, ihren zweiten Sohn, in einer Neujahrsnacht zur Welt bringt, zieht die junge alleinstehende Mutter in eine winzige Bleibe im fünften Stück eines Hauses im »Zigeunerviertel« ihres mittelalterlichen Geburtsorts in Südfrankreich, durch dessen enge Gassen Touristen stolpern. Von WOLFRAM SCHÜTTE